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Als Raymond Boynton ins Zimmer trat, fiel Poirot sofort die Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester auf.

Raymond Boyntons Gesicht war ernst und unbewegt. Er schien weder nervös noch ängstlich zu sein. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, sah Poirot fest an und sagte: »Nun?«

Poirot fragte freundlich:    »Ihre Schwester hat mit Ihnen gesprochen?«

Raymond nickte. »Ja, als sie mir sagte, dass ich zu Ihnen kommen soll. Mir ist natürlich klar, daß Ihr Verdacht durchaus gerechtfertigt ist. Wenn unser Gespräch an jenem Abend belauscht wurde, dann muss die Tatsache, dass meine Stiefmutter ziemlich unerwartet starb, wohl oder übel Verdacht erregen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass das bewusste Gespräch — nur einer momentanen Verrücktheit entsprang. Wir standen an dem Abend unter einer unerträglichen nervlichen Anspannung. Diese phantastische Idee, meine Stiefmutter umzubringen, das war doch nur — wie soll ich es ausdrücken — damit wollten wir doch nur irgendwie Dampf ablassen!«

Hercule Poirot nickte langsam und bedächtig.

»Das«, sagte er, »ist eine Möglichkeit.«

»Am nächsten Morgen kam uns das Ganze natürlich ziemlich — abwegig vor. Ich schwöre Ihnen, Monsieur Poirot, dass ich nie wieder daran gedacht habe!«

Poirot erwiderte nichts.

Raymond sagte schnelclass="underline" »O ja, ich weiß, so etwas kann man leicht behaupten. Ich erwarte ja nicht, dass Sie mir bloß auf mein Wort hin glauben. Aber sehen Sie sich die Fakten an. Ich habe kurz vor sechs mit meiner Mutter gesprochen. Und da war sie noch gesund und munter. Dann ging ich in mein Zelt, um mich frisch zu machen, und anschließend zu den anderen ins Gemeinschaftszelt. Und das haben sowohl Carol als auch ich danach nicht mehr verlassen. Alle konnten uns dort sehen. Begreifen Sie doch, Monsieur Poirot, dass meine Mutter eines natürlichen Todes starb — an Herzversagen —, anders kann es nicht gewesen sein! Es waren doch Diener in der Nähe, ein ständiges Kommen und Gehen. Etwas anderes ist völlig absurd.«

»Wissen Sie eigentlich, Mr. Boynton«, fragte Poirot ruhig, »was Miss King aussagt? Sie sagt, als sie die Leiche um halb sieben untersuchte, war der Tod mindestens eineinhalb Stunden und vermutlich sogar zwei Stunden früher eingetreten.«

Raymond starrte ihn an. Er war wie vor den Kopf geschlagen.

»Das hat Sarah gesagt?«, stieß er hervor.

Poirot nickte. »Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Aber — das ist unmöglich!«

»So lautet Miss Kings Aussage. Und nun kommen Sie und erzählen mir, dass vierzig Minuten bevor Miss King die Leiche untersuchte, Ihre Mutter noch gesund und munter war.«

»Aber so war es!«, sagte Raymond.

»Nehmen Sie sich in Acht, Mr. Boynton.«

»Sarah muss sich irren! Sie muss irgendeinen Faktor nicht berücksichtigt haben. Dass die Felsen die Hitze zurückstrahlen —  was weiß ich. Ich versichere Ihnen, Monsieur Poirot, dass meine Mutter kurz vor sechs noch lebte und dass ich mit ihr sprach.«

Poirots Gesichtsausdruck verriet nichts.

Raymond beugte sich eindringlich vor.

»Monsieur Poirot, ich weiß, was Sie denken müssen, aber betrachten Sie die Sache objektiv. Sie sind voreingenommen. Das liegt vermutlich in der Natur der Sache. Sie leben    in    einer    Welt    des Verbrechens. Bei einem plötzlichen Tod denken Sie automatisch sofort an ein Verbrechen! Begreifen Sie denn nicht, dass Sie alles aus einem ganz bestimmten Blickwinkel betrachten? Jeden Tag sterben Menschen — insbesondere Menschen, die ein schwaches Herz haben —, und nichts daran ist in irgendeiner Weise rätselhaft.«

Poirot seufzte. »Sie wollen mich also mein Handwerk lehren, wie?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich glaube, dass Sie voreingenommen sind — wegen diesem verhängnisvollen Gespräch. Am Tod meiner Mutter ist nichts, das Verdacht erregen könnte, abgesehen von dieser unglückseligen hysterischen Unterhaltung zwischen Carol und mir.«

Poirot schüttelte den Kopf. »Sie irren sich«, sagte er. »Das ist nicht alles. Da ist noch das Gift, das aus Dr. Gerards Reiseapotheke entwendet wurde.«

»Gift?« Ray sah ihn entgeistert an. » Gift? « Er schob seinen Stuhl etwas zurück. Er schien wie vor den Kopf geschlagen. »Sie denken, es könnte Gift gewesen sein?«

Poirot ließ ihn eine Weile darüber nachdenken. Dann sagte er ruhig, fast desinteressiert: »Sie hatten einen anderen Plan, wie?«

»Ja, natürlich«, antwortete Raymond mechanisch. »Darum ist — das ändert natürlich alles. Ich — ich kann keinen — klaren Gedanken fassen.«

»Wie sah Ihr Plan aus?«

»Unser Plan? Wir wollten — « Raymond hielt abrupt inne. Seine Augen wurden wachsam, er war plötzlich auf der Hut.

»Ich glaube«, sagte er, »ich werde jetzt nichts mehr sagen.«

»Ganz wie Sie wünschen«, sagte Poirot.

Er verfolgte, wie der junge Mann das Zimmer verließ.

Er griff nach seinem Notizblock und machte fein säuberlich die letzte Eintragung: »R.B. 17.55?«

Dann nahm er ein großes Blatt Papier und begann zu schreiben. Als er fertig war, lehnte er sich mit schief gelegtem Kopf zurück und sann über die Aufstellung nach. Sie lautete wie folgt:

15.05 (ca.): Die Boyntons und Jefferson Cope verlassen das Camp.

15.15 (ca.): Dr. Gerard und Sarah King verlassen das Camp.

16.15: Lady Westholme und Miss Pierce verlassen das Camp.

16.20 (ca.): Dr. Gerard kommt zurück ins Camp.

16.35: Lennox Boynton kommt zurück ins Camp.

16.40: Nadine Boynton kommt zurück ins Camp und spricht mit Mrs. Boynton.

16.50 (ca.): Nadine Boynton verlässt ihre Schwiegermutter und geht ins Gemeinschaftszelt.

17.10: Carol Boynton kommt zurück ins Camp.

17.40: Lady Westholme, Miss Pierce und Mr. Jefferson Cope kommen zurück ins Camp.

1750: Raymond Boynton kommt zurück ins Camp.

18.00: Sarah King kommt zurück ins Camp.

18.30: Die Tote wird entdeckt.

Zehntes Kapitel

»Interessant«, sagte Hercule Poirot. Er faltete das Blatt zusammen, ging zur Tür und gab Anweisung, Mahmoud zu ihm zu bringen. Der beleibte Dragoman war wortreich wie immer und überschüttete Poirot mit einem wahren Redeschwall.

»Immer, immer ich bin schuld. Wenn etwas passiert, sagen immer, meine Schuld. Immer alles meine Schuld. Wenn Lady Ellen sich verstaucht Knöchel, wenn heruntergekommen von Opferplatz, ich bin schuld — obwohl sie gehen mit hohe Absätze und sie mindestens sechzig Jahre alt, vielleicht siebzig. Ach, mein Leben nichts als Elend! Und dann Elend und Machenschaften von Juden gegen uns — «

Endlich gelang es Poirot, den Redefluss zu bremsen und eine Frage zu stellen.

»Halb sechs Uhr, Sie sagen? Nein, ich nicht denke, dass da Diener waren unterwegs. Müssen wissen, Mittagessen ist spät — zwei Uhr. Und dann alles aufräumen. Nach Mittagessen alle schlafen ganze Nachmittag. Ja, weil Amerikaner sie nicht trinken Tee. Um halb vier Uhr wir alle schon schlafen. Um fünf Uhr, ich komme heraus, weil ich bin Tüchtigkeit in Person — ich immer, immer sorgen für Wohlergehen von Ladys und Gentlemen, wo ich diene — und ich weiß, englische Ladys wünschen Tee zu die Zeit. Aber niemand da. Alle fort, spazieren gehen. Für mich das ist sehr gut — besser als andere Tage. Ich kann gehen wieder schlafen. Ein Viertel vor sechs fängt Ärger an. Große englische Lady — sehr feine Dame — kommen zurück, wollen Tee, aber Boys schon decken Tisch für Abendessen. Sie macht großes Theater — sagt, Wasser muss kochen, ich selbst muss sorgen dafür. Ach, mein gnädiger Herr, was für ein Leben! Was für ein Leben — was für ein Leben! Ich machen alles, was ich kann — aber immer ich bin schuld — ich — «