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Ich bin gespannt, dachte sie, ob mir Dr. Gerard erlaubt, mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Er hat wirklich Hervorragendes geleistet. Ich hoffe nur, dass er mich ernst nimmt. Vielleicht klappt es - falls er nach Petra mitkommt.

Dann dachte sie wieder an den merkwürdigen ungehobelten jungen Amerikaner.

Für sie bestand nicht der geringste Zweifel, dass die Anwesenheit seiner Familie ihn zu der seltsamen Reaktion veranlasst hatte, aber sie verachtete ihn trotzdem ein klein wenig. Derart unter der Fuchtel der eigenen Familie zu stehen war doch wirklich grotesk - insbesondere für einen Mann!

Und doch.

Sie wurde von einem eigenartigen Gefühl beschlichen. Irgendetwas an der ganzen Sache konnte einfach nicht normal sein!

Plötzlich sagte sie laut: »Der junge Mann muss gerettet werden! Dafür werde ich sorgen!«

Drittes Kapitel

Nachdem Sarah den Salon verlassen hatte, blieb Dr. Gerard noch einige Minuten an seinem Platz sitzen. Dann ging er gemächlich zu den ausliegenden Zeitungen hinüber, griff nach der neuesten Ausgabe von Le Matin und schlenderte damit zu einem Sessel in der Nähe der Boyntons. Seine Neugierde war geweckt.

Zunächst hatte er sich über das Interesse der jungen Engländerin an der amerikanischen Familie amüsiert und haarscharf den Schluss gezogen, dass dies auf ihr Interesse an einem bestimmten Mitglied der Familie zurückzuführen war. Doch nun erregte etwas Ungewöhnliches an dieser Familie das tiefer gehende, unparteiischere Interesse des Wissenschaftlers in ihm. Er spürte, dass er es hier mit einem psychologisch interessanten Fall zu tun hatte.

Hinter seiner Zeitung versteckt, nahm er die Gruppe diskret in Augenschein. Zunächst den jungen Mann, für den sich die attraktive Engländerin so offenkundig interessierte. Ja, dachte Gerard, eindeutig der Typ, der von Natur aus anziehend auf sie wirken musste. Sarah King war eine starke Persönlichkeit - sie besaß innere Ausgeglichenheit, einen klaren Verstand und einen eisernen Willen. Den jungen Mann schätzte Dr. Gerard als sensibel, scharfsichtig, unsicher und leicht beeinflussbar ein. Dem sachkundigen Blick des Arztes entging nicht, dass der junge Mann sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung befand. Dr. Gerard fragte sich, warum. Es war ihm ein Rätsel. Aus welchem Grund sollte ein junger Mann, der sich allem Anschein nach bester Gesundheit erfreute, der doch angeblich zum Vergnügen im Ausland war, in einer Verfassung sein, die auf einen unmittelbar bevorstehenden N ervenzusammenbruch schließen ließ?

Der Arzt wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Mitgliedern der Familie zu. Das junge Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren war offensichtlich Raymonds Schwester. Die beiden waren sich vom Typ her sehr ähnlich - zartgliedrig, gut gewachsen, aristokratische Gesichtszüge. Sie hatten die gleichen schmalen, wohlgeformten Hände, die gleiche klare Kinnlinie und Kopfhaltung, den gleichen langen, schlanken Hals. Aber auch das Mädchen war nervös. Sie machte ständig unwillkürliche fahrige Bewegungen, und unter ihren unnatürlich glänzenden Augen lagen tiefe Schatten. Wenn sie sprach, klang ihre Stimme hektisch und eine Spur atemlos. Sie war wachsam - auf der Hut - unfähig, sich zu entspannen.

»Und sie hat Angst«, schloss Dr. Gerard. »Ja, sie hat Angst!«

Er schnappte Gesprächsfetzen auf, Bruchstücke einer ganz alltäglichen, normalen Unterhaltung.

»Wollen wir nicht Salomos Ställe besuchen?« - »Wird das Mutter auch nicht zu viel werden?« - »Und morgen Vormittag vielleicht die Klagemauer?« - »Und natürlich den Tempel - vielmehr die OmarMoschee, wie er jetzt heißt. Warum eigentlich?« - »Weil er in eine moslemische Moschee umgewandelt wurde, Lennox, darum.«

Die üblichen, ganz alltäglichen Touristengespräche. Und doch hatte Dr. Gerard das merkwürdige Gefühl, dass die aufgeschnappten Gesprächsfetzen allesamt etwas Irrationales hatten. Sie waren Tarnung - eine Maske für etwas, das dahinter wogte und brodelte, zu abgründig und formlos, um es in Worte zu fassen. Wieder warf er, im Schutze von Le Matin, einen verstohlenen Blick hinüber.

Lennox? Das musste der ältere Bruder sein. Eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Geschwistern war nicht zu verkennen, aber es bestand ein wesentlicher Unterschied: Lennox war nicht so unruhig wie die anderen. Dr. Gerard kam zu dem Schluss, dass er ein stabileres Nervenkostüm besaß. Aber auch er hatte etwas Merkwürdiges. Er wies keinerlei Anzeichen körperlicher Angespanntheit auf, wie dies bei seinen Geschwistern der Fall war. Er saß gelöst da, schlaff. Verwirrt ging Gerard seine Erinnerungen an Patienten durch, die er so in Krankensälen hatte sitzen sehen, und dachte: Er ist erschöpft — ja, erschöpft vom langen Leiden. Der Blick in seinen Augen -dieser Blick eines verletzten Hundes oder eines kranken Pferdes - stummes kreatürliches Erdulden. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Körperlich scheint bei ihm alles in Ordnung zu sein. Dennoch besteht kein Zweifel, dass er in letzter Zeit viel gelitten hat - und zwar seelisch. Jetzt leidet er nicht mehr, er erträgt nur noch stumm, wartet - vermutlich darauf, dass das Schicksal erneut zuschlägt. Aber in welcher Form? Bilde ich mir das alles nur ein? Nein, dieser Mann wartet auf etwas, auf das nahende Ende. So liegen Krebspatienten im Bett und warten, dankbar dafür, dass ein Medikament ihre Schmerzen ein wenig lindert.

Lennox Boynton stand auf und hob das Wollknäuel auf, das der alten Dame heruntergefallen war.

»Bitte, Mutter.«

»Danke.«

Was strickte sie da eigentlich, diese monströse phlegmatische alte Frau? Irgendetwas Dickes und Grobes. Gerard dachte: »Fäustlinge für Armenhäusler!« Er musste über seine eigene Phantasie lächeln.

Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jüngsten Mitglied der Gruppe zu, dem Mädchen mit den rotblonden Haaren. Sie war etwa neunzehn. Ihre Haut besaß die wundervolle Reinheit, die so oft mit roten Haaren einhergeht. Ihr Gesicht war sehr schön, wenn auch viel zu schmal. Sie saß da und lächelte vor sich hin - lächelte ins Leere. Ein eigenartiges Lächeln. Es war so weit weg vom Hotel Solomon, von Jerusalem. Es erinnerte Dr. Gerard an etwas. Dann fiel es ihm schlagartig ein. Es war das seltsame überirdische Lächeln, das auf den Lippen der Karyatiden auf der Akropolis in Athen liegt. Der Zauber dieses Lächelns, die absolute Regungslosigkeit des jungen Mädchens gaben ihm einen kleinen Stich.

Doch dann fiel sein Blick auf ihre Hände, und es traf ihn wie ein Schock. Für die anderen Familienmitglieder waren sie durch den Tisch verdeckt, aber Dr. Gerard konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen. Die Hände lagen auf dem Schoß des jungen Mädchens und zupften - zupften und rissen ein zartes Taschentuch in winzige Fetzen.

Gerard war zutiefst bestürzt. Das abwesende, gedankenverlorene Lächeln, der absolut reglose Körper - und die geschäftigen, zerstörerischen Hände.

Viertes Kapitel

Plötzlich war ein gedehntes asthmatisches Keuchen zu hören, und die monströse strickende Frau sagte: »Ginevra, du bist müde. Du solltest zu Bett gehen.«

Das Mädchen zuckte zusammen, die Finger hielten in ihrem mechanischen Zupfen inne. »Ich bin noch nicht müde, Mutter.«

Gerard registrierte anerkennend, wie melodisch die Stimme war. Sie besaß jenen lieblichen, singenden Klang, der selbst den alltäglichsten Bemerkungen einen Zauber verleiht.

»Doch, das bist du. Ich merke es dir immer an. Ich glaube nicht, dass du morgen irgendwelche Sehenswürdigkeiten besichtigen kannst.«

»Aber das kann ich ganz bestimmt! Mir fehlt nichts.«

Mit dumpfer, rauer Stimme - einer beinahe krächzenden Stimme - sagte ihre Mutter: »O doch. Du wirst wieder krank werden.«