»So ist es. Und sie hat alle darin bestärkt, zu Hause zu bleiben und sich nicht nach einer Arbeit umzusehen. Das mag vielleicht in Ordnung sein, Geld ist ja genug vorhanden, keiner von ihnen muss arbeiten, aber ich finde, dass Arbeit zumindest für einen Mann eine sehr bekömmliche Arznei ist. Und da ist noch etwas: Keiner von ihnen hat irgendwelche Hobbies. Sie spielen nicht Golf. Sie gehören keinem Club an. Sie gehen weder zu Tanzveranstaltungen noch unternehmen sie sonst etwas mit anderen jungen Leuten. Sie leben in einem riesigen Kasten mitten auf dem Land, meilenweit vom nächsten Ort entfernt. Ich sage Ihnen, Dr. Gerard, mir scheint das völlig falsch zu sein.«
»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Dr. Gerard.
»Keiner von ihnen hat auch nur das geringste gesellschaftliche Bewusstsein. Keinerlei Gemeinsinn - ja, genau das fehlt ihnen! Sie mögen ja ein harmonisches Familienleben führen, aber alle miteinander sind völlig in sich selbst versunken.«
»War nie die Rede davon, dass der eine oder andere von ihnen auf eigenen Füßen stehen wollte?«
»Nicht, dass ich wüsste. Sie hocken einfach nur rum.«
»Geben Sie die Schuld daran den Kindern oder Mrs. Boynton?«
Jefferson Cope rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
»Na ja, in gewisser Hinsicht glaube ich schon, dass mehr oder weniger sie dafür verantwortlich ist. Die Art, wie sie sie erzogen hat, war nicht richtig. Trotzdem, wenn ein Bursche erwachsen wird, dann liegt es an ihm, eigene Wege zu gehen. Ein junger Mann sollte nicht dauernd am Rockzipfel seiner Mutter hängen. Er sollte aus eigenem Antrieb unabhängig sein wollen.«
Dr. Gerard sagte nachdenklich: »Vielleicht ist das nicht möglich.«
»Warum nicht?«
»Weil es Mittel und Wege gibt, Mr. Cope, einen Baum am Wachsen zu hindern.«
Cope starrte ihn an. »Aber sie sind alle gesund und munter, Dr. Gerard!«
»Der Geist kann ebenso in der Entwicklung gehemmt werden und verkümmern wie der Körper.«
»Auch geistig ist bei ihnen alles in Ordnung.«
Jefferson Cope fuhr fort: »Nein, Dr. Gerard, glauben Sie mir, jeder Mensch hat sein Schicksal selbst in der Hand. Ein Mann mit Selbstachtung geht seinen eigenen Weg und fängt etwas mit seinem Leben an. Er hockt nicht bloß rum und dreht Däumchen. Vor so einem Mann kann eine Frau doch keine Achtung haben.«
Gerard sah ihn einen Moment lang merkwürdig an. Dann sagte er: »Beziehen sich Ihre Worte insbesondere auf Mr. Lennox Boynton?«
»Ja, ich dachte dabei tatsächlich an Lennox. Raymond ist ja fast noch ein Kind. Aber Lennox wird bald dreißig. Höchste Zeit, dass er zeigt, was in ihm steckt.«
»Für seine Frau ist das vermutlich nicht leicht.«
»Ganz bestimmt nicht! Nadine ist ein feiner Mensch. Ich bewundere sie mehr, als ich sagen kann. Sie hat sich noch nie auch nur mit einem Wort beklagt. Aber sie ist nicht glücklich, Dr. Gerard! Unglücklicher als sie kann man gar nicht sein.«
Gerard nickte zustimmend. »Ja, damit könnten Sie Recht haben.«
»Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken, Dr. Gerard, aber ich finde, dass alles seine Grenzen hat und dass sich eine Frau nicht mit allem abfinden muss! Wenn ich Nadine wäre, würde ich das Lennox mal unmissverständlich klarmachen. Entweder er reißt sich zusammen und zeigt, aus welchem Holz er geschnitzt ist, oder.«
»Oder aber sie sollte ihn verlassen, wollen Sie sagen?«
»Sie muss auch an sich selbst denken, Dr. Gerard. Wenn Lennox sie nicht so zu schätzen weiß, wie sie es verdient - nun, andere Männer wüssten es.«
»Beispielsweise - Sie selbst?«
Der Amerikaner wurde rot. Dann sah er den anderen mit einer Art stiller Würde offen an.
»Ja«, sagte er. »Ich schäme mich meiner Gefühle für Nadine nicht. Ich habe große Achtung vor ihr und bin ihr aufrichtig zugetan. Ich will nur, dass sie glücklich ist. Wenn sie mit Lennox glücklich wäre, würde ich mich zurückziehen und von der Bildfläche verschwinden.«
»Aber?«
»Aber so wie die Dinge liegen, halte ich mich in Bereitschaft! Wenn sie mich braucht, werde ich da sein!«
»Der Ritter ohne Furcht und Tadel«, murmelte Gerard.
»Wie bitte?«
»Mein lieber Freund, Ritterlichkeit findet man heutzutage nur noch bei Ihnen in Amerika! Sie sind es zufrieden, der Dame Ihres Herzens auch ohne Aussicht auf Belohnung zu dienen! Höchst bewundernswert, in der Tat! Was genau hoffen Sie, für die Dame tun zu können?«
»Ich will einfach zur Stelle zu sein, wenn sie mich braucht.«
»Und wie, wenn ich fragen darf, verhält sich die alte Mrs. Boynton Ihnen gegenüber?«
Jefferson Cope sagte bedächtig: »Ich bin mir nie ganz klar über sie. Wie ich schon sagte, hält sie nichts davon, Kontakte mit Außenstehenden zu haben. Aber bei mir ist es anders. Zu mir ist sie immer sehr freundlich und behandelt mich fast wie ein Familienmitglied.«
»Das heißt, sie billigt Ihre Freundschaft mit der jungen Mrs. Boynton?«
»Ja.«
Dr. Gerard zuckte die Schultern. »Ist das nicht etwas merkwürdig?«
Jefferson Cope erwiderte förmlich: »Ich darf Ihnen versichern, Dr. Gerard, dass diese Freundschaft nicht im Entferntesten ungehörig ist. Sie ist rein platonisch.«
»Ich bitte Sie, mein Lieber, davon bin ich überzeugt! Dennoch wiederhole ich, dass es sonderbar ist seitens Mrs. Boyntons, diese Freundschaft zu ermutigen. Mrs. Boynton interessiert mich - sie interessiert mich sogar sehr, Mr. Cope.«
»Sie ist wirklich eine erstaunliche Frau. Sie hat sehr viel Charakterstärke - und eine ausgeprägte Persönlichkeit. Wie gesagt, Eimer Boynton vertraute ihr vollkommen. «
»So sehr, dass er bereit war, ihr seine Kinder in finanzieller Hinsicht auf Gedeih und Verderb auszuliefern. In meinem Land, Mr. Cope, wäre dergleichen von Rechts wegen unmöglich.«
Mr. Cope stand auf. »Wir Amerikaner«, sagte er, »glauben nun einmal fest an absolute Freiheit.«
Dr. Gerard erhob sich ebenfalls. Mr. Copes Worte machten keinen Eindruck auf ihn. Er hatte sie schon früher gehört, von Menschen unterschiedlichster Nationalität. Die Illusion, Freiheit sei das Vorrecht des jeweils eigenen Volkes, ist ziemlich weit verbreitet.
Dr. Gerard war klüger. Er wusste, dass kein Volk, kein Staat und kein Mensch wahrhaft frei zu nennen ist. Aber er wusste auch, dass es unterschiedliche Grade der Unfreiheit gibt.
Nachdenklich und neugierig zugleich ging er hinauf in sein Zimmer.
Sechstes Kapitel
Sarah King stand auf dem Tempelberg, dem Haram esh-Sharif. Hinter ihr lag der Felsendom. Das helle Plätschern der Brunnen drang an ihr Ohr. Grüppchen von Touristen gingen vorbei, ohne den Frieden der orientalischen Atmosphäre zu stören.
Seltsam, dachte Sarah, dass einst ein Jebusiter diesen felsigen Hügel als Tenne benutzt und dass David ihn für 50 Silberschekel gekauft und dort einen Altar errichtet hatte. Und jetzt war hier das Stimmengewirr der Besucher aus aller Herren Länder zu vernehmen.
Sie drehte sich um und betrachtete die Moschee, die sich nun über dem Heiligtum erhob, und fragte sich, ob Salomos Tempel auch nur halb so schön gewesen sein konnte.
Schritte waren zu hören, und eine kleine Gruppe trat aus der Moschee ins Freie. Es waren die Boyntons, begleitet von einem geschwätzigen Dragoman. Mrs. Boynton wurde von Lennox und Raymond gestützt. Dahinter kamen Nadine und Mr. Cope. Den Abschluss bildete Carol. Als sie weitergingen, entdeckte letztere Sarah.
Sie zögerte, machte dann, einem plötzlichen Entschluss folgend, kehrt und lief rasch und geräuschlos über den Platz.