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»Verzeihen Sie«, sagte sie atemlos. »Ich muss - ich wollte - ich muss mit Ihnen reden.«

»Ja?«, sagte Sarah.

Carol zitterte heftig. Ihr Gesicht war sehr blass.

»Es geht um - um meinen Bruder. Als Sie ihn gestern Abend ansprachen, müssen Sie ihn für - für sehr unhöflich gehalten haben. Aber das war nicht seine Absicht. Er

- er konnte nur nicht anders. Bitte glauben Sie mir!«

Für Sarah hatte Carols Auftritt etwas Absurdes. Er beleidigte nicht nur ihren Stolz, sondern auch ihren guten Geschmack. Wie kam eine wildfremde Person dazu, auf sie loszustürmen und eine lächerliche Entschuldigung für ihren flegelhaften Bruder vorzubringen?

Sie hatte schon eine spontane Bemerkung auf den Lippen, doch dann schwang ihre Stimmung plötzlich um.

Hier schien ein besonderer Fall vorzuliegen. Das junge Mädchen meinte es todernst. Die Neigung, die Sarah veranlasst hatte, den Arztberuf zu ergreifen, machte sie hellhörig für die Not des Mädchens. Ihr Instinkt sagte ihr, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

Aufmunternd sagte sie: »Wollen Sie mir nicht Näheres erzählen?«

»Er hat im Zug mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?«, begann Carol.

Sarah nickte. »Ja. Genau gesagt habe ich ihn angesprochen.«

»Das dachte ich mir. Anders herum hätte ich es mir auch kaum vorstellen können. Aber, wissen Sie, gestern Abend hatte Ray einfach Angst - «

Sie brach ab.

»Angst?«

Carols blasses Gesicht rötete sich.

»Ach, das klingt bestimmt absurd - oder verrückt. Meine Mutter ist nämlich - also, es geht ihr nicht besonders - und sie mag es nicht, wenn wir uns mit anderen Leuten anfreunden. Aber - aber ich weiß, dass -dass Ray Sie gerne besser kennen lernen würde.«

Sarahs Neugierde war geweckt. Bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Carol fort: »Ich - was ich da sage, klingt bestimmt sehr komisch, aber wir sind eine - eine ziemlich eigenartige Familie.« Sie blickte sich schnell um - voller Angst.

»Ich - ich muss gehen«, murmelte sie. »Die anderen könnten etwas merken.«

Sarah fasste einen Entschluss.

»Warum bleiben Sie nicht noch ein bisschen«, sagte sie, »wenn Sie das möchten? Wir können doch gemeinsam zum Hotel zurückgehen.«

»O nein!« Carol wich zurück. »Das - das kann ich nicht.«

»Warum denn nicht?«, fragte Sarah.

»Das kann ich auf gar keinen Fall! Meine Mutter wäre -wäre sicher - «

Ruhig und deutlich sagte Sarah: »Ich weiß, dass es Eltern manchmal furchtbar schwer fällt zu begreifen, dass ihre Kinder erwachsen sind. Sie wollen deren Leben unbedingt auch weiterhin bestimmen. Aber, wissen Sie, es ist ein Fehler, nachzugeben. Man muss für seine Rechte eintreten!«

Carol sagte leise: »Sie verstehen nicht -Sie haben ja keine Ahnung.«

Sie rang nervös die Hände.

»Manchmal«, fuhr Sarah fort, »gibt man nach, weil man keinen Streit haben will. Auseinandersetzungen sind unangenehm, aber ich finde, dass die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, es alle Mal wert ist, dass man um sie kämpft.«

»Freiheit?« Carol starrte sie entgeistert an. »Von uns ist keiner jemals frei gewesen. Und wir werden es auch nie sein.«

»So ein Unsinn!«, sagte Sarah bestimmt.

Carol beugte sich vor und berührte ihren Arm.

»Hören Sie. Ich will versuchen, es Ihnen begreiflich zu machen. Vor ihrer Ehe war meine Mutter - meine Stiefmutter, genauer gesagt - Aufseherin in einem Gefängnis. Mein Vater war der Direktor und heiratete sie. Und daran hat sich nie etwas geändert. Sie war auch weiterhin Aufseherin - unsere Aufseherin. Und darum leben wir wie - wie im Gefängnis!«

Sie blickte sich abermals hastig um.

»Sie haben etwas gemerkt. Ich - ich muss gehen.«

Sarah hielt ihren Arm fest, als sie fortlaufen wollte.

»Warten Sie. Wir sollten uns irgendwo treffen und miteinander reden.«

»Das geht nicht. Das kann ich nicht.«

»O doch!«, sagte Sarah gebieterisch. »Kommen Sie heute Abend vor dem Zubettgehen zu mir. Zimmer 319. Nicht vergessen: 319.«

Sie ließ Carols Arm los, die daraufhin ihrer Familie nacheilte.

Sarah blickte ihr lange nach. Plötzlich merkte sie, dass Dr. Gerard neben ihr stand.

»Guten Morgen, Miss King. Wie ich sehe, haben Sie sich mit Miss Carol Boynton unterhalten. «

»Ja. Ein höchst merkwürdiges Gespräch. Ich muss es Ihnen erzählen.«

Sie wiederholte den wesentlichen Inhalt ihrer Unterhaltung mit dem jungen Mädchen. Einen entscheidenden Punkt griff Gerard sofort auf.

»Aufseherin in einem Gefängnis war das alte Nilpferd? Das könnte durchaus von Bedeutung sein.«

»Sie meinen, dass das der Grund für ihr tyrannisches Verhalten ist?«, sagte Sarah. »Dass es ihr aufgrund ihrer früheren Tätigkeit zur Gewohnheit wurde?«

Gerard schüttelte den Kopf.

»Nein, das hieße, die Sache aus dem falschen Blickwinkel betrachten. Wir haben es hier mit einem starken inneren Zwang zu tun. Sie liebt die Tyrannei nicht, weil sie Gefängnisaufseherin war. Sagen wir lieber, sie wurde Gefängnisaufseherin, weil sie die Tyrannei liebt. Nach meiner Theorie war es das heimliche Verlangen, Macht über andere Menschen auszuüben, das sie veranlasste, diesen Beruf zu ergreifen.«

Mit ernster Miene fuhr er fort: »So viele seltsame Dinge sind tief im Unterbewusstsein begraben. Die Gier nach Macht, der Drang, andere zu quälen, das triebhafte Verlangen, zu zerstören und zu vernichten - das ganze Erbe unseres kollektiven Unbewussten. All das liegt hier vor, Miss King, Grausamkeit und Zerstörungswut und Gier. Wir halten sie hinter verschlossenen Türen und verdrängen sie aus unserem Bewusstsein, aber manchmal - manchmal sind sie übermächtig.«

Sarah erschauerte. »Ich weiß.«

»Es begegnet uns heutzutage überall - in Parteiprogrammen, in der politischen Führung der Staaten. Eine Reaktion gegen humanitäre Prinzipien, gegen Mitleid, gegen Nächstenliebe. Manchmal klingen die Programme gut - ein kluges System, eine wohltätige Regierung, aber gewaltsam aufoktroyiert und basierend auf einem Fundament aus Grausamkeit und Furcht. Sie stoßen die Türen auf, diese Apostel der Gewalt, sie lassen Nachsicht walten gegenüber der alten Barbarei, der alten Lust nach Grausamkeit um ihrer selbst willen! Gewiss, es ist nicht leicht - der Mensch ist ein sehr fein ausbalanciertes Geschöpf. Und er will vor allem eins -überleben. Zu schnell vorzugehen ist ebenso fatal, wie zurückzubleiben. Er muss überleben! Vielleicht muss er sich dazu etwas von der alten Barbarei bewahren, aber er darf sie nie - und zwar unter gar keinen Umständen - zu seinem Abgott machen!«

Nach einer Weile sagte Sarah: »Glauben Sie, dass die alte Mrs. Boynton eine Sadistin ist?«

»Dessen bin ich mir fast sicher. Ich glaube, es bereitet ihr Vergnügen, andere zu quälen - seelisch zu quälen, wohlgemerkt, nicht körperlich. Das kommt sehr viel seltener vor, und es ist sehr viel schwieriger, damit umzugehen. Sie genießt es, andere in ihrer Gewalt zu haben, und sie genießt es, sie leiden zu lassen.«

»Das ist ja abscheulich!«, sagte Sarah.

Gerard erzählte ihr von seinem Gespräch mit Jefferson Cope.

»Er durchschaut also nicht, was da vor sich geht?«, erkundigte sie sich zögernd.

»Wie sollte er? Er ist kein Psychologe.«

»Stimmt. Er denkt nicht in so grässlichen Kategorien wie wir!«

»Genau. Er denkt wie ein netter, rechtschaffener, empfindsamer, normaler Amerikaner. Er glaubt an das Gute statt an das Böse. Er sieht zwar, dass mit dem Familienleben der Boyntons etwas nicht in Ordnung ist, aber er unterstellt Mrs. Boynton übertriebene Liebe und Fürsorge statt gezielte Böswilligkeit.«