Die Chronik der Unsterblichen
Der Todesstoß
Wolfgang Hohlbein
Verarbeitung von: Dennis (Demonian)
Korrektur von: Ilona (loele2000)
Vielen Dank, Ilona. :-) To spread this knowledge&
Layout by Waldschrat
Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist der meistgelesene und erfolgreichste deutschsprachige Fantasy-Autor. Seine Bücher decken die ganze Palette der Unterhaltungsliteratur ab - von Kinder- und Jugendbüchern über Romane zu Filmen bis hin zur Belletristik, von Fantasy über Sciencefiction bis hin zum Horror.
Der Durchbruch gelang ihm 1982 mit dem Jugendbuch ›Märchenmond‹, für das er mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet wurde. 1993 schaffte er mit seinem phantastischen Thriller ›Das Druidentor‹ im Hardcover für Erwachsene den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste.
Die Auflagen seiner Bücher gehen in die Millionen und immer noch wird seine Fangemeinde Tag für Tag größer.
Der passionierte Motoradfahrer und Zinnfigurensammler lebt zusammen mit seiner Frau und Co-Autorin Heike, seinen Kindern und zahlreichen Hunden und Katzen am Niederrhein.
WOLFGANG HOHLBEIN
DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN
DRITTES BUCH
DER TODESSTOSS
Die Deutsche Bibliothek
CIP-Einheitsaufnahme
Hohlbein, Wolfgang: Die Chronik der Unsterblichen
vgs
Buch 3. Der Todesstoß. 2001
ISBN 3-8025-2771-2
© Egmont vgs verlagsgesellschaft, Köln 2001
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Frank Rehfeld
Produktion: Annette Hillig
Umschlaggestaltung: Alex Ziegler, Köln
Titelfoto: © Simon Marsden
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck: Pustet, Regensburg
ISBN 3-8025-2771-2
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DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN
DER TODESSTOSS
»Sie sind dort unten, auf der anderen Seite des Hügels. Vielleicht zwanzig, möglicherweise auch mehr.«
Abu Duns Atem ging so ruhig, als wäre er gerade aus einem tiefen, erholsamen Schlaf erwacht. Dabei hatte er die gut hundert Meter den steilen, mit tückischem Geröll übersäten Hang hinab im Laufschritt zurückgelegt, und das mit einer Behändigkeit, die man einem Mann seiner Statur und Masse niemals zugetraut hätte. Sein Gesicht verfinsterte sich, als er fortfuhr: »Du hattest Recht. Sie verbrennen wieder Hexen.«, Andrej sagte nichts. Was auch? Er hatte gewusst, dass er Recht hatte, schon als sie den flackernden roten Widerschein des Feuers am Nachthimmel gesehen hatten, und lange bevor Abu Dun losgelaufen war, um sich mit eigenen Augen zu vergewissern, was auf der anderen Seite des Hügels geschah. Vielleicht lag es an seinen schärferen Sinnen, dass er den Gestank von brennendem Menschenfleisch lange vor dem Piraten wahrgenommen hatte. Er war dem Tod so oft begegnet, dass er seine Nähe deutlicher spürte als andere.
»Wie viele?«, fragte er nach einer Weile.
Abu Dun hob die Schultern. Mit seiner schwarzen Kleidung und dem ebenholzfarbenen Gesicht war der Nubier selbst für Andrejs scharfe Augen kaum zu erkennen. Er ahnte die Bewegung mehr, als dass er sie sah.
»Ich habe zwei Scheiterhaufen gezählt«, sagte Abu Dun. »Wie viele sie daran gebunden haben, konnte ich nicht erkennen.« Er spie aus.
»Diese Unmenschen! Sie nennen uns Barbaren, aber sie selbst tun Dinge, vor denen selbst der Teufel zurückschrecken würde.«
»Der Teufel vielleicht, aber du?«, fragte Andrej. »Ich war einmal auf einem Schiff, auf dem ich Dinge gesehen habe, die selbst den Teufel erschreckt hätten. Wie hieß doch gleich sein Kapitän?«
Abu Dun beantwortete die Anspielung auf seine Vergangenheit mit einem Grinsen, das seine Zähne in der Nacht fast unnatürlich weiß aufblitzen ließ. »Ich habe auch nie behauptet, besser zu sein als du«, sagte er.
»Das stimmt«, erwiderte Andrej. »Du bist der ehrlichste Pirat, den ich kenne.«
»Ich war Kaufmann«, verbesserte ihn Abu Dun.
»Nur, dass du lebende Waren verkauft hast, ich weiß.«
»Jedenfalls habe ich meine Waren pfleglich behandelt und sie nicht lebendig gebraten«, verteidigte sich Abu Dun. Er grinste erneut, und auch Andrej lachte leise, aber nur für einen ganz kurzen Moment. Zugleich fragte er sich, wieso sie eigentlich so ausgelassen waren, angesichts der unaussprechlichen Gräueltaten, die gerade auf der anderen Seite des Hügels stattfanden. Aber vielleicht war es der einzige Weg, um diese Geschehnisse überhaupt zu ertragen.
»Und?«, fragte Abu Dun nach einer Weile. »Was tun wir?«
»Was wir tun?«
Abu Dun machte eine Kopfbewegung in Richtung des roten Widerscheins am Himmel. »Gehen wir unserer Wege und tun so, als hätten wir nichts bemerkt?«
»Was sonst? Du hast es selbst gesagt: Es sind zwanzig, vielleicht sogar dreißig.«
»Dreißig Bauerntölpel und hysterische Weiber.« Abu Dun machte eine wegwerfende Geste. »Keine Gegner für uns. Sie werden weglaufen, wenn wir die ersten zwei oder drei erschlagen haben.«
»Ich verstehe!« Verbitterung lag in Andrejs Stimme. »Du meinst, wir erschlagen zwei oder drei Unschuldige, um zwei oder drei Unschuldige zu retten.«
»Du weißt sehr genau, dass das ein Unterschied ist, Hexenmeister«, antwortete Abu Dun immer noch grinsend, aber mit deutlich schärferer Stimme. »Du könntest dich ja auch in eine Fledermaus verwandeln und sie erschrecken.«
»Und ihnen damit einen Grund liefern, um noch mehr Scheiterhaufen aufzustellen«, sagte Andrej kopfschüttelnd. »Außerdem kann ich mich nicht in eine Fledermaus verwandeln, wie oft muss ich dir das noch erklären?«
»Hast du es denn je ernsthaft versucht?«, beharrte Abu Dun.
»Hast du je ernsthaft versucht, dich in einen vernünftigen Menschen zu verwandeln?« Andrej machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in der sie ihre Pferde zurückgelassen hatten.
»Verschwinden wir. Es gibt eine Herberge, nicht weit von hier. Vielleicht finden wir dort noch ein Quartier für die Nacht.«
Abu Dun sah ihn überrascht an. Anscheinend hatte er erwartet, dass sein Freund irgendetwas unternehmen würde. Und natürlich hatte Andrej darüber nachgedacht - aber er wusste nichts über die Menschen hier, über ihre Beweggründe und Absichten. Schließlich konnte er nicht die ganze Welt retten.
»Lass uns gehen«, sagte er noch einmal.
»Ganz wie Ihr befehlt, Sahib«, grollte Abu Dun.
Andrej verzichtete auf eine Antwort. In den gut zehn Jahren, die er den nubischen Piraten und Sklavenhändler nun kannte, waren sie von Todfeinden zuerst zu widerwilligen Verbündeten geworden und hatten später gelernt, einander so zu nehmen, wie sie waren. Mittlerweile waren sie Freunde; aber es gab Bereiche, in denen sie niemals eine Einigung erzielen würden. Andrejs scheinbare Unverwundbarkeit gehörte dazu.
Sie sprachen selten über das Leben, das der Pirat und Sklavenhändler geführt hatte, bevor das Schicksal sie zusammengebracht hatte, aber Andrej vermutete, dass Abu Dun während seiner Zeit als Seeräuber mehr Menschen getötet hatte, als so mancher Söldner, und er wich auch heute noch keinem Kampf aus. Andrej war dennoch der weit bessere Schwertkämpfer und überlegenere Taktiker. Umso weniger konnte Abu Dun verstehen, wie sehr es ihm zuwider war, die Waffe gegen einen anderen Menschen zu erheben, obwohl - aber vielleicht auch gerade weil - Andrej keinen Gegner zu fürchten brauchte. Vielleicht war er einfach zu oft gezwungen gewesen zu töten.