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»Was?«

»Lass mich raten«, sagte Abu Dun scharf, »dein Ziel liegt im Norden und Westen. Du willst diese Zigeunerin finden.«

»Manchmal bist du mir unheimlich, Pirat«, antwortete Andrej in nicht ganz so scherzhaftem Ton, wie er eigentlich beabsichtigt hatte. »Liest du meine Gedanken?«

»Ja«, schnappte Abu Dun. »Vor allem, wenn sie so verrückt sind wie jetzt!«

Andrej streckte sich im Gras aus und versuchte, seinen Hinterkopf in eine einigermaßen bequeme Stellung auf dem Sattel zu legen. Es gelang ihm nicht.

»Ich bin nicht müde«, sagte er. »Und ich hätte eigentlich erwartet, dass du mich verstehst. Ich muss diese alte Frau finden.«

»Wozu?« Abu Dun lachte rau. »Glaubst du, du müsstest nur zu ihr gehen, und sie würde dir ...«

»... erklären, was ich bin, ja«, unterbrach ihn Andrej. »Genau das glaube ich.«

»Du bist verrückt!«

»Ich wäre verrückt, wenn ich es nicht versuchen würde!«, widersprach Andrej. Er setzte sich auf. »Seit mehr als zehn Jahren versuche ich herauszufinden, was mit mir geschehen ist, Abu Dun! Was ich bin, und warum sich das Schicksal diesen bösen Scherz mit mir erlaubt hat! Niemand weiß etwas! Die wenigen anderen Menschen, auf die ich gestoßen bin, und die so waren wie ich, sind entweder verschwunden oder haben versucht mich umzubringen! Diese alte Frau ist vielleicht die Einzige, die mir meine Fragen beantworten kann!«

»Wahrscheinlich wird sie nur irgendein abergläubisches Gewäsch von sich geben, wie alle anderen«, sagte Abu Dun.

»Alessa hätte sie die Wahrheit gesagt.«

»Alessa«, antwortete Abu Dun, »hat möglicherweise gelogen, weil sie Angst vor uns hatte. Oder sie hat im Fieber gesprochen. Oder diese alte Zigeunerin hat sie auf später vertröstet, weil sie ihre Fragen auch nicht hätte beantworten können - hast du darüber schon einmal nachgedacht?«

»Ja«, sagte Andrej, »das habe ich. Es gibt sicher noch tausend andere Gründe, nicht zu gehen. Du hast Recht, Abu Dun, tausendmal Recht. Aber ich muss es versuchen. Es ist die einzige Möglichkeit, vielleicht endlich zu verstehen, was mit mir geschieht.«

Abu Dun seufzte. »Und ich dachte, es wäre endlich vorbei«, murmelte er.

»Aber du hast nur eine Besessenheit gegen die andere getauscht, scheint mir.«

Das stimmte nicht. Jedes Wort, das Andrej gesagt hatte, entsprach der Wahrheit, aber dazu kam noch etwas, das er Abu Dun in diesem Moment unmöglich sagen konnte. Wenn er mehr über sich erfuhr, wenn er endlich begriff, was und wer er war, dann würde er vielleicht Maria wiederfinden.

»Der Weg ist sehr weit - und nicht ungefährlich.« Abu Dun gab sich immer noch nicht geschlagen. »Wir würden Wochen brauchen, wenn nicht Monate, und wir wissen nicht einmal genau, wo wir suchen sollen! Das Mädchen hat uns keine Stadt genannt. Eine alte Zigeunerin namens Anka, irgendwo im Bayerischen, eine Stunde von der Grenze entfernt! Weißt du, was für ein riesiges Gebiet das ist, du Narr? Wir können ein Jahr lang suchen, ohne sie zu finden. Falls sie überhaupt noch lebt.«

»Du musst mich nicht begleiten«, sagte Andrej ruhig. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns trennen.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ich meine es ernst, Abu Dun«, unterbrach ihn Andrej. »Meine Freundschaft bringt den Tod. Wenn du noch ein wenig leben willst, dann solltest du vielleicht nicht mit mir kommen.«

»Wenn dich schon niemand bedauert, dann wenigstens du selber, wie?«, antwortete Abu Dun finster. Er schüttelte den Kopf. »Wohin sollte ich schon gehen? Wenn ich hier bleibe, ende ich auf dem Scheiterhaufen, dafür hast du ja gesorgt. Und wenn ich zurückgehe, begegne ich früher oder später meinen Landsleuten, die dabei sind, euer verfluchtes Christenreich Stück für Stück zu erobern. Sie sind auch nicht gerade gut auf mich zu sprechen.«

»Trotzdem solltest du ...«

»Ich sollte dich begleiten!«, sagte Abu Dun entschieden. »Du überlebst doch keine zwei Tage, wenn ich nicht auf dich aufpasse. Aber ich bleibe dabei, dass es Wahnsinn ist!«

»Habe ich je das Gegenteil behauptet?«, fragte Andrej.

Abu Dun schüttelte den Kopf.

Sie brauchten nicht Monate, wie Abu Dun befürchtet hatte, aber mehr als fünf Wochen, von denen sie anfangs noch dem Lauf der Donau folgten, der sie getreulich nach Norden führte. Dann aber wichen sie vom direkten Weg ab, um einen großen Bogen um Wien zu schlagen. Die Nachrichten über das, was in Vater Carols Ort geschehen war, waren längst hinter ihnen zurückgeblieben und würden bald vergessen sein. Oder zu einer der zahllosen Schreckensgeschichten verblassen, die die Menschen sich abends am Feuer erzählten, um sich an dem wohligen Schauer zu erfreuen, der einen überkommt, wenn man vom Unglück anderer hört, während man sich selbst in Sicherheit weiß. Aber andere, kaum weniger schlechte Nachrichten, holten sie ein und warteten vielerorts bereits auf sie; Neuigkeiten vom Krieg, die Andrej mit tiefer Beunruhigung erfüllten. Der Vormarsch der Türken war ungebrochen.

Noch waren ihre Heere nicht in diesen Teil des Landes vorgedrungen, aber die Kunde von ihren angeblichen Gräueltaten eilte ihnen weit voraus, und dass Abu Dun kein Türke war und selbst vor ihnen auf der Flucht, stand ihm schließlich nicht auf die Stirn geschrieben. Menschen mit dunklen Gesichtern, die Turbane trugen, waren in Zeiten wie diesen nicht sonderlich beliebt. Andrej schlug vor, zumindest die großen Städte zu umgehen, und Abu Dun hatte nichts dagegen einzuwenden.

Sie überschritten die Grenze in der Nähe eines kleinen Ortes, der bereits den deutschen Namen Kuschenwalde trug, aber noch nicht auf deutschem Boden lag, und als sie den unauffälligen Grenzstein am Wegesrand passiert hatten, zügelte Abu Dun sein Pferd und sagte: »Irgendwo im Bayerischen. Da sind wir.«

Andrej antwortete nicht gleich, sondern erst nach einer geraumen Weile. Zu seiner großen Überraschung hatte Abu Dun während der gesamten Reise darauf verzichtet, ihn noch einmal auf die vermeintliche Sinnlosigkeit dieser Mission anzusprechen; aber natürlich hatte er gewusst, dass dieser Moment kommen würde, und versucht, sich entsprechend darauf vorzubereiten. Statt all der geschliffenen und wohlfeilen Worte jedoch, die er sich zurechtgelegt hatte, sagte er ziemlich lahm: »Das ist wohl mehr das Fränkische hier. Wir haben noch ein gutes Stück vor uns. Eine Woche, wenn nichts dazwischenkommt. Vielleicht etwas mehr.«

»Wie beruhigend«, sagte Abu Dun spöttisch. »Dann haben wir ja noch eine Woche Zeit, bevor wir anfangen, unsere Zeit zu verschwenden.«

»Ich schlage vor, wir suchen uns erst einmal eine Herberge, um eine vernünftige Mahlzeit zu bekommen«, sagte Andrej. »Und gegen eine Nacht in einem sauberen weichen Bett hätte ich auch nicht unbedingt etwas einzuwenden. Du?«

»Wenn wir es bezahlen können.«

Abu Duns Antwort erinnerte Andrej schmerzhaft daran, wie beunruhigend schnell ihre Barschaft in den letzten Wochen zusammengeschmolzen war. Sie waren - aus naheliegenden Gründen - nur selten in Gasthäusern eingekehrt und hatten nur zu oft unter freiem Himmel geschlafen und sich von dem ernährt, was ihnen die Wälder und die Natur lieferten, sodass die Reise nur wenig Geld gekostet hatte - aber sie hatte Geld gekostet, und sie war lang gewesen. So bedeutungslos dieser Umstand, nach allem, was hinter ihnen lag, auch sein mochte: Sie waren nahezu mittellos, und es wurde allmählich Zeit, dass sie sich Gedanken darüber machten, wie sie ihre zusammengeschmolzene Barschaft wieder aufbessern konnten. Abu Dun hatte auch schon einige Vorschläge gemacht, die Andrej aber allesamt abgelehnt hatte, denn es war genau die Art von Vorschlägen gewesen, wie er sie von einem ehemaligen Piraten und Sklavenhändler erwartet hatte.

»Wir könnten auf dem nächsten Jahrmarkt auftreten«, spottete nun Andrej.

»Und womit?«

»Wir könnten kämpfen«, antwortete Andrej. »Ich bin sicher, die Leute bezahlen gerne dafür, zusehen zu dürfen, wie ein Muselmane geschlachtet wird.«