»Wie kommt Ihr darauf, dass ich das annehme?«, fragte er.
Da der Geistliche offenbar nicht viel von überflüssigen Worten hielt, beschloss Andrej, auch direkter zu werden. »Ihr seid nicht besonders erfreut von unserer Anwesenheit, scheint mir. Dabei habe ich gehört, dass Gastfreundschaft zu einer der vornehmsten Tugenden Eures Landes gehört.«
Der letzte Satz war eine glatte Lüge. Er hatte das Gegenteil gehört, und die letzten Wochen hatten dies auch bewiesen. Je weiter sie nach Norden gekommen waren, desto stärker hatte die Gastfreundschaft der Menschen ab- und ihr Misstrauen Fremden gegenüber zugenommen. Andrej war verwundert darüber. Immerhin kamen sie aus einem Land, in dem seit zehn Jahren Krieg herrschte, in eines, in dem die Menschen wenigstens einigermaßen in Frieden leben konnten.
»Es wird sich zeigen, wie sehr wir von Eurem Besuch erfreut sind«, antwortete der Mönch. »Ihr seid Reisende, sagt Ihr? Woher kommt Ihr? Wohin seid Ihr unterwegs, und warum?«
Andrej fand nicht, dass das den Alten irgendetwas anging. Die Menschen hier hatten möglicherweise Schlimmes mit Fremden erlebt. Vielleicht waren sie auch nur in einem ungünstigen Moment gekommen. Er setzte dazu an, seinem Gegenüber eine höfliche, aber entschiedene Antwort zukommen zu lassen, als er Schritte hinter sich hörte, und eine tiefe Stimme sagte: »Lass es gut sein, Vater Ludowig. Ich glaube, sie sind harmlos.«
Andrej drehte sich um und musste überrascht den Kopf in den Nacken legen, um in das Gesicht des Mannes blicken zu können, der hinter ihm aufgetaucht war. Er war fast so groß wie Abu Dun, allerdings viel schlanker, und er hatte ein breitflächiges Gesicht mit buschigen Brauen, dem aber trotzdem etwas sehr Offenes anhaftete. Der Blick, mit dem er Andrej maß, war aufmerksam und ein wenig abschätzend, aber ohne Misstrauen und frei von der Feindseligkeit, die er in Ludowigs Augen gesehen hatte.
»Ich bin Birger«, fuhr er fort, nachdem er es zugelassen hatte, dass Andrej ihn eine Weile musterte. Er streckte die Hand aus, und Andrej griff danach und drückte sie kurz. »Ihr müsst Vater Ludowigs Unhöflichkeit entschuldigen, Andrej. Er hat nichts Gutes mit Fremden erlebt.«
»Wir haben nichts Gutes mit Fremden erlebt«, sagte Vater Ludowig. »Und vielleicht wird sich das heute wiederholen.«
Birger schien von dieser Bemerkung keine Notiz zu nehmen, aber er warf Andrej einen Blick zu, der klarmachen sollte, dass er es vorzog, das Gespräch nicht fortzuführen. »Ihr und Euer Freund seid uns herzlich willkommen, Andrej«, fuhr er fort. »Wenn Ihr ein Lager für die Nacht sucht...«
»Frisches Wasser für die Pferde und ein paar Auskünfte werden wohl ausreichen«, mischte sich Abu Dun ein. Er war nicht abgesessen. Andrej sah aus den Augenwinkeln, dass sich der Platz mittlerweile mit Menschen gefüllt hatte. Es mussten weit mehr als fünfzig sein, die einen sich allmählich enger zusammenziehenden Kreis rings um sie herum bildeten.
»Ihr wollt heute noch weiterreiten?«, fragte Birger.
»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, antwortete Andrej.
»Und nur noch wenige Stunden Tageslicht«, fügte Birger hinzu. »Ihr werdet die nächste Stadt nicht vor Mitternacht erreichen. Es bleibt natürlich Euch überlassen, aber ich würde das Risiko nicht eingehen, in den Wäldern zu übernachten. Es ist nicht ungefährlich, vor allem für Fremde.«
»Wieso?«, fragte Abu Dun.
Birger warf einen raschen Blick auf den schwarz gekleideten Riesen. »Die Wälder sind sehr dicht und unwegsam«, antwortete er. »Außerdem gibt es wilde Tiere und Ungeheuer darin. So mancher, der hineingegangen ist, ist nicht wieder herausgekommen.«
Andrej versuchte vergeblich, einen Unterton von Spott oder gar einer Drohung in seiner Stimme auszumachen. Aber Birger schien durchaus ernst zu meinen, was er sagte.
Andrej sah zu Abu Dun hoch und las die Antwort auf seine unausgesprochene Frage überdeutlich in dessen Augen. Wenn es nach dem Nubier gegangen wäre, dann hätte auch Andrej längst wieder im Sattel sitzen müssen.
»Außerdem kommen nur selten Fremde nach Trentklamm«, fuhr Birger fort.
»Wir würden uns freuen, wenn Ihr eine Nacht bleiben würdet. Wir haben kein Gasthaus, aber in meinem bescheidenen Haus ist Platz genug, und etwas zu essen werden wir auch finden.« Er grinste und hatte plötzlich etwas von einem zu groß geratenen Jungen an sich. »Ihr könnt Euch ja erkenntlich zeigen, indem Ihr uns ein paar Geschichten von Eurer Reise erzählt. Wir erfahren nicht viel von dem, was in der Welt vor sich geht.«
Andrej überlegte einen Moment. Abu Dun wollte weiterreiten, und auch er selbst glaubte eine ganz leise, mahnende Stimme tief in seinem Inneren zu vernehmen, die ihm zuflüsterte, dass er auf Abu Dun hören und so schnell von hier verschwinden sollte, wie es nur ging. Aber dann brachte er diese Stimme mit einer bewussten Anstrengung zum Verstummen und nickte.
»Warum nicht? Wir haben so lange auf dem nackten Boden geschlafen, dass ich fast alles darum geben würde, mich wieder einmal in einem richtigen Bett auszustrecken. Und gegen eine warme Mahlzeit hätte ich auch nichts einzuwenden.«
»Gut«, sagte Birger. »Dann kommt mit mir. Mein Haus liegt ganz am anderen Ende des Dorfes, aber Ihr könnt gerne reiten und dort auf mich warten. Und ihr anderen«, fügte er mit erhobener, deutlich schärferer Stimme hinzu, »hört auf, unsere Gäste anzustarren, als wären sie zweiköpfige Kälber. Das ist unhöflich.«
Andrej wusste nicht, wer Birger war und welche Stellung er hier im Ort innehatte, aber die anderen hörten tatsächlich auf ihn. Die Menge begann sich rasch zu verteilen. Innerhalb kürzester Zeit war der Dorfplatz beinahe wieder menschenleer. Nur zwei oder drei Kinder blieben zurück, die die beiden Fremden - vor allem natürlich den schwarz gekleideten Mohren - mit unverblümter Neugier anstarrten. Und natürlich Vater Ludowig. Er schien noch immer von tiefem Misstrauen erfüllt zu sein.
Andrej griff nach den Zügeln, saß aber nicht auf, sondern ging neben Birger her, als dieser sich auf den Weg machte.
»Ihr müsst Vater Ludowigs Benehmen wirklich entschuldigen«, sagte Birger, nachdem sie einige Schritte gegangen waren. »Er ist ein alter Mann, der allmählich wunderlich zu werden beginnt.«
»Was hat er damit gemeint, dass ihr nichts Gutes mit Fremden erlebt habt?«, fragte Andrej.
Birgers Gesicht verdüsterte sich. »Das ist eine schlimme Geschichte«, antwortete er. »Wir sind überfallen worden, von Männern, die genau wie Ihr herkamen und vorgaben, nur ein Quartier für die Nacht und eine warme Mahlzeit zu suchen. Sie haben beides bekommen, und sie haben es uns gedankt, indem sie uns ausgeraubt und etliche von uns erschlagen haben.«
»Eine Räuberbande?«, fragte Abu Dun.
»Es ist lange her«, sagte Birger, ohne seine Frage direkt zu beantworten.
»Aber seither traut Vater Ludowig keinem Fremden mehr, der zu uns kommt. Und schon gar keinem, der eine Waffe trägt.«
»Und ... Ihr?«, fragte Andrej.
»Welchen Sinn hätte das Leben, wenn man niemandem mehr trauen würde?«, erwiderte Birger mit einem Schulterzucken. »Ich glaube, dass Gott die meisten Menschen gut erschaffen hat.« Er deutete auf Andrejs Schwert und fragte: »Seid Ihr Krieger?«
»Manchmal.« Andrej lächelte. »Wenn es sein muss.«
»Wenn es sein muss?«
»Wir haben einen weiten Weg hinter uns, und einen vielleicht noch weiteren vor uns«, antwortete Andrej. »Ihr habt es selbst gesagt: Die meisten Menschen sind gut. Aber leider nicht alle.«
Birger sah ihn stirnrunzelnd an, und Andrej versuchte sich vergebens darüber klar zu werden, ob der Grund für dieses Stirnrunzeln der war, dass er über das Gesagte nachdachte, oder ob Birger der Umstand aufgefallen war, dass Andrej seine Worte nicht genau wiedergegeben hatte.
»Man muss sich verteidigen«, sagte Birger schließlich. »Ihr kommt aus dem Osten, nicht wahr? Dort wüten noch immer die Türken. Ist es wahr, dass sie auch hierher kommen werden?«