»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej ausweichend. »Aber selbst wenn, dann wird es noch sehr lange dauern. Sie sind weit weg. Sorgt Euch nicht.«
»Ich sorge mich nicht«, erwiderte Birger. »Ich bin nur neugierig.« Er sah zu Abu Dun hoch. »Seid Ihr ein Türke?«
Abu Dun starrte ihn nur finster an, aber Andrej war nicht ganz sicher, wem der Ärger in seinem Blick eigentlich galt - Birger oder ihm.
»Nein«, sagte er rasch. »Abu Dun hat mit den Türken so wenig zu schaffen wie ich. Und er mag sie wohl noch weniger als ich. Er ist Nubier.«
»Nubier?«
»Ein Land in Afrika«, erklärte Abu Dun. »Es ist sehr weit weg.«
»Und wie ist es dort?«
»Warm«, grollte Abu Dun.
Birger blinzelte, sah den ehemaligen Piraten noch einen Herzschlag lang verwirrt an, und zuckte dann mit den Schultern.
»Da sind wir«, sagte er. Er deutete auf das letzte Haus am Ortsrand, das, an dem sie vorhin schon einmal vorbeigekommen waren, und beschleunigte seine Schritte. »Ihr könnt Eure Pferde dort im Schuppen unterbringen«, sagte er.
»Ich hatte früher selbst ein Pferd, das immer darin stand. Es ist kein Heu mehr da, aber ich werde gleich welches holen.«
»Macht Euch keine Umstände.« Andrej führte sein Tier in den kleinen Holzverschlag - er war so niedrig, dass zwar das Pferd, aber er nicht mehr aufrecht darin stehen konnte -, band den Zügel an einen Pfosten und trat wieder ins Freie. Abu Dun schwang sich ächzend aus dem Sattel und trat weit nach vorne gebeugt an ihm vorbei, und Andrej ließ seinen Blick durch die Gegend schweifen, während er darauf wartete, dass der Nubier zurückkam. Einige Kinder waren ihnen gefolgt und standen tuschelnd auf der anderen Straßenseite, aber ansonsten wirkte der Ort noch immer wie ausgestorben. Seltsam.
Sie betraten das Haus, dessen Inneres einen weitaus geräumigeren Eindruck machte, als sein Äußeres vermuten ließ. Die Decke war ein gutes Stück höher, als allgemein üblich; Andrej vermutete, dass Birger das Haus selbst gebaut hatte, und dabei seinen überdurchschnittlichen Körpermaßen angepasst hatte. Auch das Mobiliar war robust und eine Spur größer als gewöhnlich, ansonsten von ziemlich einfacher Machart.
Ihr Gastgeber eilte voraus und machte sich hastig an irgendetwas zu schaffen, das auf dem Tisch lag. Andrej hörte ein Klimpern, während Birger sich herumdrehte und mit einem kleinen Lederbeutel zu einer Truhe eilte, in die er ihn scheinbar achtlos hineinwarf. Dann drehte er sich heftig gestikulierend zu ihnen herum.
»Ihr werdet müde von der Reise sein«, sagte er. »Es gibt ein zweites Zimmer, das ohnehin leer steht. Warum ruht Ihr Euch nicht ein wenig aus? Ich muss noch gewisse Vorbereitungen treffen.«
»Vorbereitungen?«, fragte Abu Dun.
»Ich habe selten Gäste«, antwortete Birger verlegen.
»Macht Euch unseretwegen keine Umstände, Birger«, sagte Andrej, aber Birger winkte ab und ließ ihn gar nicht weiter zu Wort kommen.
»Es sind keine Umstände, im Gegenteil. Ich habe so selten Gäste, dass ich froh bin, dass Ihr da seid. Aber ich glaube, es ist besser, wenn ich noch einmal mit Vater Ludowig rede. Und mit einigen anderen.«
»Anderen?«, hakte Abu Dun nach.
»Macht Euch keine unnötigen Gedanken«, sagte Birger und begann wieder mit den Händen in der Luft herumzufuchteln. »Ich bin bald zurück. Ruht Euch aus oder seht in der Speisekammer nach, ob Ihr etwas findet, was Eurem Geschmack entspricht. Ich bin bald zurück.«
Bevor Andrej oder Abu Dun auch noch eine weitere Frage stellen konnten, lief er an ihnen vorbei und zur Tür hinaus. Andrej blickte ihm kopfschüttelnd nach, während sich Abu Duns misstrauisches Stirnrunzeln noch vertiefte.
»Wie hat er das gemeint, wir sollen uns keine unnötigen Gedanken machen?«, murmelte er. »Vielleicht reicht es ja, wenn wir uns die Gedanken machen, die nötig sind.«
Andrej seufzte, aber Abu Dun schien Gefallen an dem Wortspiel gefunden zu haben. »Weißt du, wie du es am schnellsten schaffst, jemanden zu beunruhigen?«, fragte er, nur um seine eigene Frage gleich selbst zu beantworten: »Indem du ihm versichert, dass es keinen Grund gibt, beunruhigt zu sein.«
Wieder seufzte Andrej. »Abu Dun, dein gesundes Misstrauen in Ehren, aber man kann es damit auch übertreiben.«
»Genau wie mit der Vertrauensseligkeit«, murrte Abu Dun. Er wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort, dann hob er die Schultern und ging mit langsamen Schritten zu der Truhe, an der sich Birger zu schaffen gemacht hatte. Er klappte den Deckel auf, griff hinein und nahm den Beutel heraus, den Birger zuvor dort hineingeworfen hatte. Andrej zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, als Abu Dun ihn öffnete und eine Anzahl Silber- und Kupfermünzen auf seine Handfläche schüttete.
»Lass das!«, wies er Abu Dun zurecht. »Das gehört uns nicht.«
»Du vergisst, mit wem du redest«, sagte Abu Dun.
»Keineswegs«, antwortete Andrej.
Abu Dun machte ein beleidigtes Gesicht, legte den Beutel jedoch nicht zurück, sondern schüttete sich auch noch den restlichen Inhalt auf die Handfläche und zählte den Betrag, ehe er ihn - mit deutlichem Bedauern - in den Beutel zurückgleiten ließ und diesen wieder in der Kiste verstaute.
»Das ist eine höllische Menge Geld«, sagte er. »Genug für unsere Reise.«
»Zu schade, dass du mir dein Wort gegeben hast, nicht mehr zu stehlen«, erinnerte Andrej ihn.
»Hehe!«, widersprach Abu Dun. »Wann soll das gewesen sein?«
»Jetzt gerade«, antwortete Andrej. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Vergiss es gleich wieder. Ich möchte keine Schwierigkeiten. Die Leute hier haben uns freundlich aufgenommen.«
»Freundlich?« Abu Dun riss die Augen auf. »Dann möchte ich die Menschen in diesem Land nicht erleben, wenn sie unfreundlich sind.«
»Hör jetzt auf, wenn du keinen Wert darauf legst, unfreundlich zu erleben«, riet ihm Andrej.
Abu Dun ließ sein prachtvolles Gebiss zu einem breiten Grinsen aufblitzen, aber er hatte auch begriffen, dass Andrejs Worte nicht ganz so scherzhaft gemeint gewesen waren, wie sie vielleicht geklungen hatten. Also ging er nicht weiter auf die vermeintliche Unfreundlichkeit der Dorfbewohner ein, sondern blickte kopfschüttelnd zu der Tür, hinter der Birger verschwunden war.
»Dieser Birger ist ein seltsamer Mann«, murmelte er.
»Wieso?«
Der Nubier hob die Schultern. »Er ist entweder der größte Dummkopf, dem ich je begegnet bin, oder der raffinierteste Lügner, den ich jemals gesehen habe.«
Eine ganze Weile später kehrte Birger in Begleitung einiger anderer Dorfbewohner zurück, und nachdem beide Seiten ihr noch immer vorhandenes Misstrauen allmählich überwanden, kamen sie mehr und mehr miteinander ins Gespräch. Weitere Männer und Frauen und auch etliche Kinder erschienen, sodass Birgers an sich geräumiges Haus schon bald zu klein wurde und sie den lauen Abend nutzten und sich draußen um ein Feuer setzten, das umso höher loderte, je größer der Kreis wurde, der sich darum bildete. Es war kein wirkliches Fest, aber die Stimmung war entspannt und nahezu fröhlich, und nach und nach gesellte sich fast das gesamte Dorf zu ihnen - abgesehen von Vater Ludowig, der den gesamten Abend in seiner Kirche verbrachte und Gott um Beistand gegen die fremden Teufel anflehte, wie das hell erleuchtete Gotteshaus vermuten ließ.
Bis lange nach Mitternacht saßen sie zusammen, und die Dörfler lauschten den Erzählungen von fremden Ländern und abenteuerlichen Reisen, die Andrej und später auch Abu Dun zum Besten gaben. Die meisten dieser Geschichten hatten sie sich gerade in dem Moment ausgedacht, in dem sie sie erzählten. Andrej vermutete, dass zumindest Birger dies ahnte, denn manchmal glomm ein sonderbares Lächeln in seinen Augen auf, aber welchen Unterschied machte das schon? Sie hatten versprochen, sich für die Gastfreundschaft dieser Menschen erkenntlich zu zeigen, indem sie von dem erzählten, was draußen in der Welt vor sich ging. Die meisten der Dorfbewohner würden Zeit ihres Lebens ohnehin nicht aus ihrem Dorf herauskommen.