Andrej war aber nicht sicher, ob sie nun von Vater Ludowig oder von Birger ausgegangen war.
»Ich muss mich in Vater Ludowigs Namen für die Störung Eures Schlafes entschuldigen«, sagte Birger. »Er ist ein alter Mann, aber das rechtfertigt nicht sein Handeln. Ich werde mit ihm sprechen.«
»Das ist nicht nötig«, wiegelte Abu Dun ab. Er sah aus dem Fenster. »In Kürze wird es ohnehin hell. Wir können ebenso gut jetzt aufbrechen.«
»Ganz, wie Ihr wünscht.« Birger wirkte enttäuscht. »Ich hoffe nur, es hat nichts mit diesem dummen Zwischenfall zu tun.«
»Bestimmt nicht«, versicherte ihm Andrej. »Abu Dun hat Recht, wisst Ihr? Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Aber Ihr bleibt, bis es hell ist?« Birgers Vorschlag klang eindeutig wie ein Befehl. »Es ist viel zu gefährlich, nachts durch die Wälder zu reiten. Ihr könnt Euch draußen am Brunnen waschen, wenn Ihr wollt. Das Wasser ist kalt, aber sauber. Ich werde die Zeit nutzen, um ein Mahl vorzubereiten. Ihr könnt es auf dem Weg brauchen, glaubt mir.«
Andrej tauschte einen raschen - und, wie er hoffte, von Birger nicht bemerkten - Blick mit Abu Dun, aber der Nubier zuckte nur mit den Schultern.
Wie Birger vorausgesagt hatte, war das Wasser des gemauerten Brunnens hinter seinem Haus sauber und klar, aber auch eiskalt. Es kostete Andrej Überwindung, sich damit zu waschen, und auch Abu Dun schnaubte und prustete, dass man es im ganzen Tal hätte hören müssen. Rasch trockneten sie sich ab, hüllten sich wieder in ihre Kleider, und als sie ins Haus zurückkamen, erlebten sie eine Überraschung: Birger hatte nicht nur überall Kerzen angezündet, was dem großen, nur spärlich möblierten Raum etwas sonderbar Sakrales zu verleihen schien, er hatte auch bereits den Tisch gedeckt und Speisen aufgetragen, die das Mahl eher zu einem Festmahl geraten ließen. Und er war nicht mehr allein. Andrej hatte nicht bemerkt, dass noch jemand das Haus betreten hatte, doch neben Birger saß jetzt eine dunkelhaarige junge Frau, die sehr zierlich war. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Haut war mit einem kränklichen grauen Schimmer überzogen.
»Da seid Ihr ja schon«, begrüßte Birger seine Gäste. Er klang jetzt wieder so fröhlich wie am vergangenen Abend. Von dem Groll, der ihn in Ludowigs Gegenwart überkommen hatte, war nichts mehr geblieben. Eifrig deutete er auf den Tisch und fuhr mit einer Kopfbewegung in Richtung der jungen Frau fort: »Helga kennt Ihr ja bereits. Nehmt Platz. Die Suppe ist gleich fertig.«
Andrej nickte wortlos in Helgas Richtung, doch obwohl sie ihn ansah, reagierte sie nicht einmal mit einem Wimpernzucken darauf. Er erinnerte sich jetzt, sie schon am vergangenen Abend am Feuer gesehen zu haben.
Während Andrej Birgers Einladung Folge leistete und sich setzte, sagte dieser: »Helga ist meine Schwester. Alles, was von meiner Familie geblieben ist.«
Das dunkelhaarige Mädchen ging an Andrej vorüber, und er registrierte einen schwachen, aber unangenehmen Geruch, den er nur dank seiner überscharfen Vampyrsinne wahrnahm. Es war der gleiche Geruch, den auch Birger verströmte. Jedem anderen Menschen wäre er verborgen geblieben, aber Andrej wusste nun, dass die beiden das Lager miteinander geteilt hatten.
Schwester?
Nun, was ging es ihn an.
Auf Abu Duns Gesicht erschien ein kurzes, aber anzügliches Grinsen, als er sich auf der anderen Seite des reich gedeckten Tisches niederließ, und Andrej warf ihm einen warnenden Blick zu. Anscheinend bedurfte es nicht zwingend des wölfischen Geruchssinns und der Eulenaugen eines Unsterblichen, um gewisse Dinge erkennen zu können. Aber sie hatten nicht das Recht, über diese Leute zu urteilen.
Dennoch: Andrej musste Abu Dun im Stillen Recht geben. Zwar hatte es gut getan, wieder einmal unter Menschen zu sein und in einem richtigen Bett zu schlafen, aber sie hätten nicht herkommen sollen.
Irgendetwas war mit diesem Dorf und seinen Menschen nicht in Ordnung.
Birger trug eine heiße Gemüsebrühe auf, der sie ebenso ausgiebig zusprachen wie dem frisch gebackenen Brot und dem Salzfleisch, das Helga kredenzte. Es begann zu dämmern, als sie mit dem Mahl fertig waren. Birger redete die ganze Zeit belangloses Zeug, während Helga kein Wort sprach. Nur dann und wann warf sie Andrej verstohlene Blicke zu, unter denen er sich immer unwohler zu fühlen begann. In ihren Augen, die scheinbar vollkommen ausdruckslos waren, schien etwas wie eine Aufforderung zu liegen, beinahe schon etwas Gieriges.
Unsinn! dachte er. Der Einzige, der hier Gier verspürte, war er. Er hatte keine Frau mehr gehabt, seit sie Transsylvanien endgültig den Rücken gekehrt hatten, was mittlerweile mehr als drei Monate zurücklag. Aber daran würde sich vorerst nichts ändern.
Ihr graues Gesicht zeugte nicht nur von Müdigkeit. Er konnte riechen, dass irgendetwas in ihrem Körper wühlte, tief innen und ihr selbst noch nicht bekannt, das sie am Schluss zerstören musste. Schuldbewusst senkte er den Blick in seine fast geleerte Suppenschale.
Birger deutete ihn offenbar falsch. »Noch einen Nachschlag?«
»Nein«, antwortete Andrej rasch. Er sah zum Fenster, hinter dem der Himmel mittlerweile hellgrau geworden war. »Es ist wirklich an der Zeit.«
»Auf ein Wort noch«, wandte Birger ein, als Andrej aufstehen wollte.
»Bitte.«
Andrej ließ sich wieder zurücksinken. Er war plötzlich angespannt. Birger hielt ihn nicht nur unter allen möglichen Vorwänden hier fest, weil er ihre Gesellschaft genoss, das spürte er plötzlich. »Ja?«
»Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll ...«, sagte Birger, und Abu Dun unterbrach ihn: »Nur immer geradeheraus. Du hast unsere Sachen durchwühlt, nicht wahr?«
Andrej sah ihn fragend an, und Abu Dun nickte finster. »Als du dich vorhin gewaschen hast, war ich bei den Pferden. Jemand hat sich an unserem Gepäck zu schaffen gemacht. Er war sehr vorsichtig, aber ich habe es gemerkt.«
»Ich wollte mir nur darüber klar werden, wer Ihr seid«, sagte Birger. »Ich habe nichts gestohlen.«
»Ich weiß«, sagte Abu Dun. »Wäre es anders, dann wärst du jetzt schon tot.«
»Warum?«, fragte Andrej. »Haben wir Euch irgendeinen Grund gegeben, uns zu misstrauen?«
»Im Gegenteil«, antwortete Birger. Er lächelte verlegen. »Immerhin habt Ihr mein Gold nicht angerührt.«
»Gold?«
»In der Truhe, in die ich das Geldsäckchen gelegt habe«, antwortete Birger mit einer Kopfbewegung. »Darunter liegt ein ganzer Beutel voller Gold. Fünfzig Golddukaten, um genau zu sein.«
»Fünfzig!« Abu Dun riss die Augen auf. Das war ein regelrechter Schatz, den man bei einem einfachen Bauern wie Birger ganz gewiss nicht erwartet hätte.
»Sie sind falsch«, sagte Birger leichthin. »Aber es sind gute Fälschungen. Kaum jemand hat bisher den Unterschied bemerkt.«
»Ihr wolltet, dass wir Euch dabei beobachten, wie Ihr Euer Geld in die Truhe legt«, vermutete Andrej. »Warum?«
»Ich bin nicht so über die Maßen misstrauisch wie Vater Ludowig und einige andere hier«, antwortete Birger, »aber ich bin auch nicht dumm. Zu viel Vertrauensseligkeit ist ebenso schädlich wie zu großes Misstrauen.«
»Du wolltest uns auf die Probe stellen«, stellte Abu Dun fest. Er zog eine Grimasse. »Was hättest du gemacht, wenn wir dein Geld und dein falsches Gold einfach genommen hätten und davon geritten wären?«
»Ihr hättet Trentklamm nicht lebend verlassen«, antwortete Birger. Es hörte sich nicht wie eine Drohung an, sondern eher wie etwas, woran es für Birger nicht den geringsten Zweifel gab.
Abu Dun wollte auffahren, aber Andrej brachte ihn mit einer hastigen Geste zum Schweigen. »Und nun, wo wir Eure Probe bestanden haben?«, wollte er wissen.
Birger sah kurz zu Helga hin, ehe er antwortete. »Ich habe Euch einen Vorschlag zu machen«, sagte er.