»Dann wüsste ich, dass ihre Seele endlich Frieden gefunden hat«, antwortete Birger. »Ich wäre zufrieden damit, es zu wissen. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie womöglich Tag für Tag von diesen Bestien gequält wird - so lange, bis sie anfängt, mich zu verfluchen, weil ich sie gezeugt habe.«
»Wir haben keine Zeit«, sagte Abu Dun. »Der Weg, der noch vor uns liegt, ist weit, und ...«
»So weit, dass zwei oder drei Tage wohl kaum ins Gewicht fallen«, fiel ihm Birger ins Wort. Er schüttelte heftig den Kopf. »Ihr wollt nach Nürnberg?«
»Das stimmt«, sagte Andrej.
»Aber Ihr seid fremd in diesem Land. Wenn Ihr den Straßen folgt, verliert Ihr eine Woche, wenn nicht mehr. Ich kenne eine Abkürzung durch die Wälder. Die zeige ich Euch.«
»Nachdem wir zurück sind«, vermutete Andrej.
»Nachdem wir zurück sind«, bestätigte Birger.
»Ihr müsstet uns begleiten«, sagte Andrej. Abu Duns bohrende Blicke beachtete er nicht. Er wusste, dass der Nubier es nicht guthieß, dem Drängen Birgers nachzugeben, und er hatte Recht damit, tausendmal Recht. Aber Andrej konnte auch Birgers Frage nicht vergessen. Ob er wüsste, was es hieß, einen geliebten Menschen zu verlieren? Es verging seit zehn Jahren kein Tag, an dem ihn dieses Gefühl nicht quälte. »Wir kennen den Weg zu diesem Dorf nicht, und wir wissen auch nicht, wie Eure Tochter aussieht.«
»Andrej!«, sagte Abu Dun nachdrücklich.
»Ich werde Euch begleiten«, sagte Birger. »Und ein paar von den anderen auch. Wir haben gestern Nacht darüber gesprochen ...« Er hob die Schultern.
»Ich will ehrlich sein. Nicht alle sind mit meinem Plan einverstanden. Sie haben Angst, die alte Fehde damit neu zu beleben.«
»Nicht ganz zu Unrecht«, gab Andrej zu bedenken.
»Sie war niemals zu Ende«, antwortete Birger heftig. »Glaubt Ihr, sie lassen uns jetzt in Ruhe? Bestimmt nicht. Sie werden wiederkommen, vielleicht in diesem Jahr, vielleicht im nächsten, aber sie werden kommen.«
»Und dir deine Tochter vielleicht wieder wegnehmen«, schloss Abu Dun.
»Euer Streit geht uns nichts an. Andrej!«
»Abu Dun hat Recht, wisst Ihr?« Andrejs Stimme wurde sanft. »Wir würden alles nur noch schlimmer machen.«
»Das soll nicht Eure Sorge sein!« Birger blieb hartnäckig. »Ich flehe Euch an, Andrej, helft mir. Nennt mir Euren Preis, und ich werde ihn bezahlen. Ich bin kein armer Mann.«
»Was mich zu der Frage bringt, woher dein Reichtum eigentlich stammt«, hakte Abu Dun nach. »Wie kommt ein einfacher Bauer wie du an einen Beutel mit fünfzig Goldstücken - selbst wenn sie falsch sind?«
»Sie gehörten den Letzten, die der Verlockung meines Geldbeutels nicht widerstehen konnten«, antwortete Birger. »Außerdem war dies einmal eine wohlhabende Gemeinde. Bevor sie uns überfallen und die meisten von uns erschlagen und unser Vieh gestohlen haben.«
»Ihr seid ein Mann, der anscheinend das offene Wort liebt.«
»Das bin ich«, antwortete Birger. »Nun? Wie entscheidet Ihr Euch?«
Andrej konnte Abu Duns flehende Blicke spüren. Und er hatte das Gefühl, einen schrecklichen Fehler zu begehen.
Trotzdem.
»Zwei oder drei Tage habt Ihr gesagt? Nicht mehr?«
»Und danach bringe ich Euch auf dem kürzesten Weg hier heraus«, bestätigte Birger. Abu Dun seufzte vernehmlich auf.
Kurz vor Einbruch der Dämmerung erreichten sie die Schneegrenze. Sie hatten eine Weile damit zugebracht, sich zu streiten, denn schließlich war es Abu Dun gewesen, der immer öfter auf ihre bedrohliche finanzielle Lage hingewiesen und mehr als einmal darauf gedrängt hatte, etwas zu unternehmen, das ihnen die notwendigen Geldmittel für den Rest der Reise einbringen würde. Infolge ihres Streites hatten sie den ganzen Tag über kaum noch ein Wort miteinander gewechselt.
Sie waren zu fünft: Andrej, Abu Dun, Birger und zwei schweigsame junge Burschen aus dem Dorf, die keinen besonders aufgeweckten Eindruck machten, dafür aber kräftig wirkten. Andrej hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich ihre Namen zu merken. Wäre es nach Birger gegangen, dann hätte sich ihnen noch ein Dutzend weiterer Männer angeschlossen, aber sowohl Andrej als auch Abu Dun waren dagegen gewesen. Sie beide hatten nicht vergessen, was Birger selbst über sich und die anderen gesagt hatte: Sie waren keine Krieger, sondern einfache Bauern und Kuhhirten. Ihre Anwesenheit war keine Hilfe, sondern stellte allenfalls eine Belastung, vielleicht sogar eine Gefahr dar.
Andrej war schon nicht erfreut über die Begleitung dieser beiden, hatte es aber bei einem erfolglosen Einspruchsversuch belassen. Mittlerweile war auch das fast bedeutungslos geworden. Er fror erbärmlich. Sie waren den ganzen Tag über immer tiefer in die Berge hinein- und zugleich immer höher geritten. Dort war die Luft so kalt, dass das Atmen fast schmerzte. Nicht weit vor ihnen schimmerte es weiß zwischen den spärlicher werdenden Bäumen.
»Wohin führt Ihr uns eigentlich?«, fragte Andrej. Er ritt unmittelbar neben Birger. Abu Dun hatte es vorgezogen, weiterhin kein Wort zu sprechen und ein gutes Stück hinter ihnen zu bleiben.
Andrejs Atem dampfte in der Kälte. Noch bevor Birger antwortete, drehte er sich halb im Sattel herum und sah in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Er war erstaunt festzustellen, welche große Entfernung sie an nur einem Tag zurückgelegt hatten. Dennoch konnten sie Trentklamm noch tief unter sich im Tal liegen sehen. Der Ort lag in hellem Sonnenschein da und bot, angesichts der prickelnden Kälte, die Andrej auf der Haut fühlte, einen geradezu unglaublichen Anblick.
»Es ist jetzt nicht mehr allzu weit«, antwortete Birger. »Vielleicht sollten wir hier rasten und warten, bis es dunkel wird.«
»Ich hoffe, es dauert nicht mehr so lange, wie wir brauchten, um hier heraufzukommen«, mischte sich Abu Dun ein, der mittlerweile zu ihnen aufgeschlossen hatte.
»Wir konnten nicht auf dem direkten Weg reiten«, antwortete Birger. »Sie sind misstrauisch und hätten uns gesehen.« Er machte eine Kopfbewegung nach vorne, zu den scheinbar noch immer unendlich weit entfernten Berggipfeln, die in ewigem Weiß vor ihnen schimmerten. »Wir brauchen nicht mehr lange, um den Berg zu umgehen und uns dem Dorf von der anderen Seite zu nähern. Über den Pass kämen wir niemals ungesehen hinweg.«
Andrej tauschte einen raschen Blick mit Abu Dun. Für jemanden, der immer wieder betonte, dass er kein Krieger war, dachte Birger ziemlich strategisch.
»Ich hätte nichts gegen eine Rast einzuwenden«, sagte Abu Dun. »Es ist widerlich kalt.«
Er schüttelte sich. Andrej nahm an, dass er weit mehr unter der Kälte litt als die anderen, stammte er doch aus einem Land, in dem es nicht einmal ein Wort für Schnee gab.
»Wir können kein Feuer machen«, gab Birger bedauernd zu bedenken.
»Es wäre in der Nacht deutlich zu sehen.« Er wandte sich mit einer auffordernden Geste an seine beiden Begleiter. Sie sagten nichts, setzten sich aber gehorsam in Bewegung und ritten voraus, und Birger fuhr mit einem neuerlichen Wedeln der Hand fort: »Rasten wir gleich hier. Stefan und sein Bruder geben darauf Acht, dass sich niemand heimlich anschleicht.«
»Seid ihr eigentlich alle miteinander verwandt?«, u Dun.
Birger schwang sich aus dem Sattel des grobschlächtigen Ackergaules, den er ritt, und ließ die Zügel los. Das Pferd entfernte sich ein paar Schritte und begann dann an den Grashalmen zu zupfen, die spärlich auf dem steinigen Boden wuchsen. Andrej hatte am Erfolg ihrer Reise zu zweifeln begonnen, als er die Tiere der drei Dörfler gesehen hatte. Aber die Pferde hatten ihn ebenso überrascht wie ihre Reiter. Sie hatten sich nicht besonders schnell, aber so beharrlich wie Ochsen und geschickt wie Bergziegen bewegt.
Abu Dun und er saßen ebenfalls ab, banden ihre Pferde aber an die Äste eines nahe gelegenen Baumes. Abu Dun sah sich missmutig nach einem Platz um, an dem er halbwegs weich sitzen konnte, und steuerte schließlich das einzige Mooskissen weit und breit an. Andrej setzte sich auf einen Stein und sah wortlos zu, wie Birger seine Packtaschen leerte und Brot, kaltes Fleisch und ziegenlederne Schläuche mit Wein vor ihnen ausbreitete.