Sie banden die Pferde los, stiegen auf und wandten sich nach Westen, in die Richtung, in die Andrej zuvor gedeutet hatte. Als sie zehn Schritte weit gekommen waren, stieg auf der anderen Seite des Hügels ein wirbelnder Funkenschauer zum Himmel auf, und fast im gleichen Augenblick erscholl ein so gellender Schrei, dass sich etwas in Andrej zusammenzuziehen schien.
Abu Dun zischte: »Hör gut hin, Hexenmeister. Vielleicht wird dir der Klang den Geschmack des Nachtmahls versüßen, wenn du dich daran erinnerst.«
Andrej schluckte die scharfe Entgegnung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Abu Dun wollte ihn reizen, aber das würde er nicht zulassen. Es war Monate her, dass er das Schwert das letzte Mal gezogen hatte, und noch länger, dass das letzte Mal Blut auf der Klinge des Damaszenenschwertes gewesen war. Er war des Kämpfens müde. Das vom Krieg geschüttelte Siebenbürgen hatte er nicht verlassen, um sich in einem neuen Krieg wiederzufinden.
Nach einem Augenblick wiederholte sich der Schrei noch gellender und noch entsetzlicher, und etwas in Andrej ... reagierte darauf.
Abrupt brachte er sein Pferd zum Stehen. Das Tier schnaubte unwillig, und auch Abu Dun zog hart am Zügel. »Was?«
Andrej machte eine abwehrende Handbewegung und legte den Kopf schräg, um zu lauschen. Der Schrei wiederholte sich nicht, aber nun, da er einmal darauf aufmerksam geworden war, spürte er es immer deutlicher: Es war kein Gefühl, das er wirklich mit Worten hätte beschreiben können. Aber da war plötzlich etwas Vertrautes in ihm: unersättlicher Hunger und eine Gier, die umso schlimmer war, da sie kein bestimmtes Ziel zu haben schien.
Auf der anderen Seite des Hügels war ein Wesen wie er.
Ein anderer Unsterblicher.
Oder, wie Abu Dun es ausgedrückt hätte, ein anderer Hexenmeister.
»Was hast du?«, fragte Abu Dun noch einmal. Er klang alarmiert.
Statt zu antworten riss Andrej sein Pferd in engem Bogen herum und ritt den Hügel hinauf. Auf der anderen Seite stoben keine Funken mehr, aber der Himmel glühte jetzt in einem helleren Rot, und er hörte eine schrille Stimme, die verzweifelt um Gnade flehte.
Andrej achtete ebenso wenig darauf wie die, denen dieses verzweifelte Flehen vermutlich galt. Stattdessen lauschte er in sich hinein. Die Präsenz des anderen Vampyrs war noch immer zu spüren, aber sie hatte sich verändert.
Die unstillbare Gier, die so sehr Teil seines Wesens war, war zum allergrößten Teil Furcht und Entsetzen gewichen. Vielleicht war es auch die Stimme des anderen Vampyrs, die dort drüben diese gellenden Schreie ausstieß.
Das Pferd kam immer langsamer voran. Seine Hufe fanden auf dem lockeren Geröll, das diese Seite des Hanges bedeckte, kaum Halt, und es drohte immer öfter auszurutschen. Vor allem aber polterten die Steine, die das Tier lostrat, mit einem derartigen Getöse den Hügel hinab, dass er ernsthaft befürchtete, das Geräusch könnte auf der anderen Seite zu hören sein. Lange ehe sie auch nur die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, stieg Andrej aus dem Sattel und lief zu Fuß weiter. Abu Dun, der schon eine Weile vor ihm abgesessen war, eilte so leichtfüßig und lautlos neben ihm her, dass sich für einen Augenblick ein Gefühl von Neid in Andrej breit machte.
Oben angekommen, ließen sie sich in die Hocke sinken und legten die letzten Meter bis zur Hügelkuppe auf Händen und Knien zurück.
Andrej erschauerte, als er des Geschehens auf der anderen Seite des Hügels ansichtig wurde.
Die Ansammlung ärmlicher strohgedeckter Hütten ein Dorf zu nennen, wäre übertrieben gewesen. Es waren weniger als ein Dutzend Gebäude, und das einzige, das aus Stein erbaut zu sein schien und ein massives Dach hatte, war die Kirche im Zentrum des Halbkreises, um den sich die übrigen Hütten gruppierten.
Der Ort war fast taghell erleuchtet.
Dutzende von Fackeln, die einfach in die weiche Erde gesteckt worden waren, verbreiteten ein flackerndes rotes Licht, und genau in der Mitte des Dorfplatzes brannte ein gewaltiger Scheiterhaufen. Wie zur Verhöhnung allen christlichen Glaubens bestand sein Mittelpunkt nicht aus einem Pfahl, sondern aus einem aus oberschenkelstarken Rundhölzern zusammengerügten Kreuz, an das eine einzelne Gestalt gebunden war. Obwohl die Flammen bereits fast so hoch wie das Kirchendach loderten und Andrej die Hitze selbst hier oben noch auf dem Gesicht zu spüren glaubte, schien sich die dunkle Gestalt im Zentrum dieser Feuerhölle noch zu bewegen. Aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung, hervorgerufen durch das grelle Licht der Flammen, das ihm die Tränen in die Augen trieb - und seine eigene Angst.
Feuer.
Andrej hatte panische Angst vor Feuer, nicht nur, weil er seine fürchterliche Schärfe schon mehr als einmal am eigenen Leib gespürt hatte, sondern weil es zu den wenigen Dingen gehörte, die ihm wirklich gefährlich werden konnten.
Feuer vermochte ihn durchaus zu töten. Aber da gab es noch etwas: Seine Angst vor Feuer war in den letzten Jahren beständig gewachsen, und zwar in einem Maße, das über das mit reiner Logik Erklärbare hinausging.
Vielleicht sah er die Erklärung dafür gerade vor sich. Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Scheiterhaufen er erblickt, die gellenden Schreie wie vieler bedauernswerter Opfer er gehört hatte, die bei lebendigem Leibe verbrannt waren.
»Nun?«, flüsterte Abu Dun neben ihm. »Du hast doch nicht etwa dein Gewissen entdeckt, Hexenmeister?«
»Still!«, zischte Andrej. »Und hör endlich auf, mich so zu nennen.«
Abu Dun grinste breit, aber er hielt gehorsam den Mund, während sich Andrejs Blick weiter aufmerksam über den Dorfplatz tastete. Das Bild erfüllte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und blanker Wut.
Er hatte gewusst, was er sehen würde. Abu Dun hatte es ihm gesagt, und er hatte ein solches Szenarium schon zahllose Male erblickt. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Fassung zu bewahren. Es kostete ihn fast seine gesamte Selbstbeherrschung, nicht das Schwert zu ziehen und den Hang hinunterzustürmen, um dem grausamen Geschehen ein mindestens ebenso grausames Ende zu bereiten.
Er tat nichts dergleichen, sondern musterte die Vorgänge mit großer Aufmerksamkeit und versuchte, sich jedes Detail einzuprägen.
Abu Duns Schätzung war ziemlich präzise gewesen. Es mussten knapp dreißig Personen sein, die rings um den Scheiterhaufen herum Aufstellung genommen hatten - Männer, Frauen und Alte; selbst einige Kinder waren gekommen, um sich an dem grausigen Schauspiel zu weiden. Aber es waren nur sehr wenige Männer; eine Hand voll, denen Andrej selbst über die Entfernung hinweg ansah, dass sie in keiner guten Verfassung waren.
Diesem Dorf musste es ergangen sein wie so vielen, durch die sie in den letzten Jahren gekommen waren: Nahezu alle waffenfähigen Männer waren zum Kriegsdienst gezwungen worden, und die Zurückgebliebenen kämpften verzweifelt ums Überleben.
Im Moment zerstreuten sie sich allerdings damit, dem qualvollen Tod der vermeintlichen Hexe zuzusehen.
Andrej schloss die Augen und lauschte konzentriert in sich hinein. Die fremde Präsenz war noch immer da. Sie schien sogar zugenommen zu haben.
Vermutlich war es also nicht die Gestalt auf dem Scheiterhaufen, deren Nähe er spürte.
»Also?«, drängte Abu Dun. »Was willst du jetzt tun?«
Andrej hob die Hand, um ihn zum Verstummen zu bringen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende.
Die Kirchentür hatte sich geöffnet, und ein Mann in schwarzer Priesterrobe trat heraus. Ihm folgten zwei weitere Gestalten, die in eine merkwürdige Uniform gehüllt waren: Topfhelme, Kettenhemden und kurze Röcke aus Lederstreifen, die mit blitzenden Kupfernieten beschlagen waren. Sie trugen Breitschwerter. Ihrer Aufmachung nach zu urteilen, stammten die beiden aus einem anderen Jahrhundert. Dennoch waren sie vielleicht die Einzigen im Ort, um die er sich Gedanken machen musste, sollte es zu einem Kampf kommen. Seine Hand schloss sich um den Schwertgriff, ohne dass er sich der Bewegung auch nur bewusst gewesen wäre.