Großer Gott, er hätte seinen Herzschlag hören müssen, so nahe, wie er ihm gekommen war!
»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, fragte Abu Dun nun leise, aber sehr besorgt.
»Verdammt noch mal, ja!«, schnappte Andrej. »Ich warte nur darauf, dass sämtliche Klosterbewohner angestürmt kommen. Laut genug geschrien hast du ja.«
»Du machst Fehler«, sagte Abu Dun. »Aber das passiert dir sonst nie. Nicht solche Fehler.«
»Ich bin unruhig«, antwortete Andrej fahrig. »Lass uns weitergehen. Wir haben nicht sehr viel Zeit.«
»Aber diesmal gehe ich voraus«, antwortete Abu Dun.
Er ging los, ohne Andrejs Antwort abzuwarten, und trat geduckt durch die offen stehende Pforte, die in einen der großen Torflügel eingelassen war.
Andrej folgte ihm. Der kurze Torgang war vollkommen dunkel, und auch der dahinter liegende Hof lag völlig unbeleuchtet da. In dem wuchtigen Geviert, das den Hof einrahmte, brannte nicht ein einziges Licht, und es war vollkommen still.
Andrej spürte etwas. Etwas Altes und Wohlvertrautes, vor dem er trotzdem zurückschrak wie eine Hand vor glühendem Eisen. Etwas regte sich in ihm.
Zuallererst glaubte er, es wäre noch immer die Schwärze, die nach dem Wechsel am Grunde seiner Seele zurückgeblieben war, aber das stimmte nicht. Es war nichts Fremdes, sondern etwas, das immer Teil seiner selbst gewesen war, auch wenn er es bisher mühsam unterdrückt hatte.
Gier.
Er spürte eine noch sachte, aber rasch stärker werdende Gier, ziellosen Hunger, der sich langsam in ihm auszubreiten begann, bald aber schon zu einem unerträglichen Brennen und Wühlen ansteigen würde.
»Dort vorne. Das muss der Eingang sein. Wenigstens was das betrifft, scheint Birger die Wahrheit gesagt zu haben.«
Andrej hatte Mühe, Abu Duns Worten zu folgen. Er zitterte am ganzen Leib.
Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, und es fiel ihm zunehmend schwer, auch nur das Schwert festzuhalten. Von der Klinge tropfte noch das Blut des Posten, den er erschlagen hatte, und sein Geruch schien immer intensiver zu werden.
Ohne eine Antwort abzuwarten schlich Abu Dun weiter und verschmolz nach wenigen Schritten mit dem Schatten des Treppenhauses. Andrej folgte ihm erst, als er das Geräusch der Tür hörte und ein roter Schimmer auf den Hof fiel.
Hinter der Tür, die so niedrig war, dass nicht nur Abu Dun, sondern auch er selbst sich bücken musste, um die Schwelle zu passieren, führte eine schmale, sehr steile Treppe in die Tiefe. An ihrem unteren Ende flackerte rotes Licht.
Brandgeruch schlug ihnen entgegen, vermischt mit den unverwechselbaren Ausdünstungen eines Kerkers: Blut und eingetrocknete Exkremente, saurer Angstschweiß und der Odem unendlichen Leides, von dem dieser Ort so viel aufgesogen zu haben schien, dass es zu einem festen Bestandteil seiner Wände geworden war. Etwas in Andrej schrak vor diesem Geruch zurück, aber etwas anderes, Schreckliches schien zu jubilieren und dieses teuflische Gemisch einzuatmen und sich daran zu laben wie an einem Becher uraltem köstlichem Wein. Es kostete ihn fühlbare Anstrengung, dem Nubier in die Tiefe zu folgen.
Die Treppe endete in einem winzigen halbrunden Raum, von dem zwei Gittertüren abzweigten, die in finstere Gänge mit niedrigen gewölbten Decken führten. Am Ende des einen flackerte das rote Licht, dessen Schimmer sie schon gesehen hatten, am Ende des anderen herrschte vollkommene Dunkelheit.
»Von zwei Gängen hat er nichts gesagt«, flüsterte Abu Dun. Er sah Andrej fragend an, aber der konnte nur mit einem Schulterzucken antworten. Noch am Morgen hätte er Abu Dun sagen können, wie viele Männer sich am Ende des jeweiligen Ganges befanden, womit sie beschäftigt waren und wie viele Gefangene es in den Zellen hier unten gab.
Jetzt sah und hörte er nicht mehr als der Nubier, vielleicht sogar weniger.
»Wir können immer noch umkehren«, sagte Abu Dun.
»Wir können auch hier stehen bleiben und zaudern, bis jemand kommt und uns einen Stuhl und einen Becher Wein bringt.« Andrejs Stimme klang zornig. Auch das war ... nicht in Ordnung. Abu Dun und er stritten oft, aber meistens waren es nur halb scherzhafte Auseinandersetzungen. Er war selten wirklich ungeduldig. Etwas geschah mit ihm. Er wusste noch immer nicht genau was, aber es machte ihm Angst.
Große Angst.
Abu Dun legte die Hand auf das in den dunklen Gang führende Gitter.
Es schwang mit einem leisen Quietschen der eisernen Angeln auf, die lange Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Sofort zog Abu Dun die Hand zurück und versuchte sein Glück bei der anderen Tür. Auch sie ließ sich öffnen, aber deutlich leiser als die andere. Abu Dun schob sie gerade weit genug auf, um seine breiten Schultern hindurchzwängen zu können, steckte das Schwert ein und huschte lautlos den Gang hinab.
Andrej folgte ihm, allerdings langsamer und somit in allmählich größer werdendem Abstand. Anders als Abu Dun hatte er das Schwert nicht eingesteckt. Der Blutgeruch, den die Klinge verströmte, schien immer stärker zu werden, und im gleichen Maße nahm der Hunger zu, der in seinen Eingeweiden wühlte.
Nachdem er die halbe Wegstrecke bis zum Ende des Ganges zurückgelegt hatte, blieb Abu Dun stehen und sah durch die vergitterte Sichtluke einer der zahlreichen Türen, die sich in der rechten Tunnelwand befanden. Lange stand er reglos da. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. An seiner verkrampften Haltung erkannte Andrej, dass irgendetwas in der Zelle seinen Blick bannte. Als er neben ihm angelangt war, ging er weiter und gab den Platz für Andrej frei.
Die Zelle, in die er blickte, war fensterlos, aber so klein, dass selbst das wenige Licht, das durch die vergitterte Luke fiel, ausreichte, um sie zu erhellen. An der Wand, auf die Andrej blickte, lehnte ein schon halb mumifizierter Leichnam; der angekettete Körper eines nackten Mannes, der zweifellos schon zu Lebzeiten in diese qualvolle Haltung gezwungen worden war. Der Mann war offenbar verhungert.
Schaudernd wandte sich Andrej ab. Abu Dun war am sichtbaren Ende des Ganges stehen geblieben und lugte vorsichtig um die Biegung. Die rechte Hand hatte er wieder auf das Schwert gelegt, die andere hatte er zu einer mahnenden Geste in Andrejs Richtung erhoben. Es gab nun keinen Zweifel mehr daran, wer die Führung übernommen hatte. Abu Dun wirkte auf Andrej wie ein Riese, ein schwarzer Gigant, den nichts in Gefahr bringen oder erschüttern konnte - aber zugleich auch verwundbar, so zerbrechlich und voller verlockendem Leben, warm und pulsierend, und ...
Andrej blieb stehen und presste die Lider so fest aufeinander, dass bunte Lichtblitze vor seinen Augen tanzten.
Seine Hand, die das Schwert hielt, zitterte. Nur mit äußerster Mühe gelang es ihm, die mörderische Gier niederzuringen und das Schwert wieder in die Scheide zu schieben. Der Blutgeruch nahm nicht ab. Er schien ganz im Gegenteil noch stärker zu werden, so, als könne er nun nicht mehr nur das Blut auf der Klinge, sondern auch das in Abu Duns Adern riechen.
»Zwei«, flüsterte Abu Dun. »Es sind zwei.« Er deutete auf die beiden Männer, die nur wenige Schritte hinter der Gangbiegung standen und sich mit gedämpften Stimmen unterhielten. »Bleib zurück. Ich erledige das.«
Er zog das Schwert und huschte los, in einer schnellen, fließenden Bewegung. Trotz seiner Größe bewegte er sich fast vollkommen lautlos.
Die beiden Wachposten konnten nicht den geringsten Widerstand leisten. Abu Dun kam über sie wie der Zorn Gottes.
Noch bevor einer von ihnen auch nur einen Warnschrei ausstoßen konnte, packte Abu Dun den ersten, wirbelte ihn herum und stieß ihn in Andrejs Richtung. Den anderen ergriff er und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass der Mann augenblicklich das Bewusstsein verlor.
Andrej fing den anderen Soldaten auf, schlug ihm hart mit dem Handrücken gegen den Kehlkopf, um seinen Schrei zu unterdrücken, und warf ihn dann ebenfalls gegen die Wand; ein hundertfach geübtes Vorgehen, das sie in ihrer gemeinsamen Zeit als Söldner unzählige Male mit Erfolg durchexerziert hatten. Der Mann, unfähig zu schreien, prallte mit dem Kopf gegen die Wand, verdrehte die Augen und begann zusammenzubrechen. Andrej fing ihn auf, um ihn zu Boden sinken zu lassen; nicht nur aus Barmherzigkeit, sondern auch, damit er kein unnötiges Geräusch verursachte.