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Der Mann lebte und war vermutlich nicht einmal schwer verletzt, aber er hatte sich eine Platzwunde an der Schläfe zugezogen. Blut lief über sein Gesicht, und dieser Anblick veränderte alles.

Andrej ließ den Mann nicht los. Einen Moment lang erstarrte er, dann gruben sich seine Hände tiefer in den Hals des Bewusstlosen. Statt ihn zu Boden zu schleudern, riss er ihn wieder in die Höhe und rammte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass sein Hinterkopf noch einmal und mit deutlich mehr Gewalt gegen den rauen Stein stieß. Obgleich er ohnmächtig war, stöhnte er halb laut, und die Platzwunde an seiner Schläfe begann stärker zu bluten.

Süßes, warmes Blut lief über sein Gesicht, lebendig und voller pulsierender Energie.

Andrejs Gier wurde übermächtig: ein Hunger, der zu schierer Qual explodierte, und den er stillen musste, jetzt.

Wimmernd vor Begierde drückte er den Kopf des wehrlosen Mannes nach hinten, hob die andere Hand und krümmte die Finger zu einer tödlichen Klaue, um ihm die Kehle auf zureißen.

Eine riesige Pranke schloss sich um sein Handgelenk und riss ihn mit solcher Gewalt zurück, dass er glaubte, das Gelenk würde aus der Schulter gezerrt. Andrej schrie vor Schmerz auf, riss sich los und fuhr mit kampfbereit erhobenen Händen herum.

Abu Dun schlug ihm die Faust unter das Kinn, und seine Knie wurden weich und gaben unter dem Gewicht seines Körpers nach. Sein Mund füllte sich mit Blut - seinem eigenen - und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Dann fegte lodernde rote Wut Schmerz und Schwäche davon, und er sprang mit einem Knurren auf die Füße.

Abu Dun versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die bunte Sterne vor seinen Augen explodieren ließ. Andrej taumelte, und Abu Dun versetzte ihm eine zweite, noch heftigere Maulschelle, die ihn endgültig in die Knie zwang.

Seine Glieder begannen haltlos zu zittern, und mit einem Male fühlte er sich nur noch schwach. Er sank nach vorne, versuchte vergebens, den Sturz abzufangen, und schlug schwer mit dem Gesicht auf den rauen Boden auf.

Auch jetzt verlor er nicht das Bewusstsein, aber es verging lange Zeit, bis er die Gewalt über seinen Körper zurückerlangt hatte. Mühsam stemmte er sich in die Höhe, öffnete die Augen und sah direkt in Abu Duns finsteres Gesicht.

»Hast du dich wieder in der Gewalt?«, fragte der Nubier.

Andrej nickte. Bevor er antwortete, tastete er mit spitzen Fingern seinen Unterkiefer ab, wie um sich davon zu überzeugen, dass er noch an Ort und Stelle war.

»Was war los?«, fragte Abu Dun.

»Ich ...« Andrej blickte schaudernd zu dem reglosen Körper auf der anderen Seite des Ganges hinüber. »Ich weiß es nicht.«

»Aber jetzt ist es vorbei?«

Andrej lauschte einen Moment in sich hinein. Da war noch immer etwas Fremdes und Furchteinflößendes in ihm, aber die grauenhafte Gier war erloschen. Er nickte. »Ja. Ich weiß nicht, was ...«

»Das ist jetzt unwichtig.« Abu Dun streckte die Hand aus, um ihm auf die Füße zu helfen. »Du wirst es mir später erklären. Jetzt müssen wir weiter. Ich habe das Mädchen gefunden.«

»Bist du sicher, dass es das richtige ist?«, fragte Andrej. Er stand unsicher auf seinen Füßen. Abu Dun ließ seine Hand los, und im ersten Moment wurde ihm schwindelig, als hätte der Nubier damit auch zugleich eine unsichtbare Verbindung gelöst, über die er ihm Kraft gespendet hatte.

»Die Auswahl ist nicht besonders groß«, sagte Abu Dun. »Bist du sicher, dass du sie mitnehmen willst?«

»Wieso?«

Statt zu antworten, drehte Abu Dun sich herum und steuerte eine der niedrigen Türen an, die auch diesen Gang säumten. Andrej folgte ihm mit schleppenden Schritten. Er hatte das Gefühl, Fieber zu bekommen. Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen. Als er neben Abu Dun ankam, hatte er fast vergessen, was der Nubier zu ihm gesagt hatte.

Dabei wusste er längst, was mit ihm geschah, aber er weigerte sich, es hinzunehmen. Nicht nur, weil er Angst davor hatte, sondern weil es allem widersprach, woran er je geglaubt hatte.

Abu Dun hatte bisher an der kleinen Sichtluke gestanden, die es auch in dieser Tür gab. Jetzt trat er zur Seite, um den Platz für Andrej freizugeben.

Auch diese Zelle war winzig; kaum größer als ein Alkoven. Das Mädchen stand nackt, und auf die gleiche qualvolle Weise aufrecht an die Wand gekettet wie der Tote, den sie vorhin gefunden hatten, der Tür gegenüber und schien zu schlafen. Als Andrej es sah, fuhr er zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

Das Mädchen bot einen Grauen erregenden Anblick. Birger hatte gesagt, dass seine Tochter zwölf Jahre alt wäre, doch Andrej konnte erkennen, dass sie körperlich bereits zu einer Frau herangewachsen war. Ihr Körper war mit unzähligen Striemen, Narben und erst halb verschorften Wunden übersät; Spuren von Peitschenhieben und anderen bestialischen Dingen, die man ihr angetan hatte. Ihre Handgelenke waren unförmig angeschwollen und zu dick vereiterten Wunden geworden, weil sie seit Tagen und Wochen (Wochen? dachte Andrej schaudernd. Großer Gott - möglicherweise seit zwei Jahren) mit hoch über den Kopf erhobenen Armen an die Wand gekettet waren.

Sie stand fast knöcheltief in ihrem eigenen Schmutz. Selbst hier draußen war der Gestank, der Andrej entgegenschlug, fast unerträglich.

»Diese Teufel!«, grollte Abu Dun. »Sie nennen sich Christen? Bei Allah, für mich sind sie nicht einmal Menschen! Tritt zurück!«

Andrej gehorchte. Abu Dun machte sich nicht die Mühe, einen der bewusstlosen Wächter nach dem Schlüssel zu durchsuchen. Er trat mit solcher Wucht gegen den Riegel, dass dieser zerbarst. Wütend zerrte er die Tür auf, trat in die Zelle und schwang seinen Säbel. Er musste zwei-, dreimal zuschlagen, bevor es ihm gelang, eines der Kettenglieder zu zersprengen, die von Imrets Handgelenken zu einem eisernen Ring hoch oben in der Wand hinaufführten.

Dann aber sackte das Mädchen so plötzlich in sich zusammen, dass Abu Dun sie nur mit Mühe und Not auffangen konnte. Sein Schwert klirrte zu Boden.

Andrej wartete, bis er die Zelle mit dem Mädchen auf dem Arm verlassen hatte, dann bückte er sich und hob die Klinge auf.

Abu Dun schüttelte den Kopf, als Andrej das Schwert in seinen Gürtel schob und ihm das bewusstlose Mädchen abnehmen wollte.

»Geh voraus«, sagte er knapp.

Andrej drehte sich gehorsam um und eilte voraus, aber erst, nachdem er Imret noch einen Herzschlag lang betrachtet hatte. Der Anblick erfüllte ihn mit einer rasenden Wut. Das Mädchen war abgemagert bis auf die Knochen, war fast so groß wie er, und es gab kaum eine Stelle an seinem Körper, die nicht von Narben oder frischen Wunden bedeckt war. Er wünschte sich nichts mehr, als Vergeltung für das, was diesem unschuldigen Kind angetan worden war.

Sein Wunsch sollte sich rasch erfüllen.

Sie hatten den Gang hinter sich gelassen, und Andrej näherte sich der Treppe, als oben auf dem Hof ein gellender Schrei ertönte. Der Laut drang nur gedämpft zu ihnen vor, aber Andrej hatte derartige Schreie zu oft gehört, um nicht sofort zu wissen, dass die beiden Wachen gefunden worden waren.

»Verdammt!«, fluchte Abu Dun. »Das hätte nicht passieren dürfen! Lauf!«

Andrej stürmte gehorsam los, aber er war nicht schnell genug. Jede Stufe kostete ihn Anstrengung, es war, als müsse er seinen Körper zu jeder noch so winzigen Bewegung mühsam zwingen. Was immer das Ungeheuer ihm angetan hatte, es wirkte schnell.

Sie stürmten auf den Hof hinaus, der nicht mehr dunkel und still war. Hinter mehreren Fenstern flackerte rotes Licht, und Andrej hörte mindestens ein Dutzend Stimmen, die aufgeregt durcheinander riefen. Das Torgewölbe war von Fackellicht erfüllt, und auch aus der entgegengesetzten Richtung näherten sich ihnen rennende Gestalten, die heftig zuckende Fackeln schwenkten.