Er versuchte sich zu bewegen. Es gelang ihm nicht, aber der Versuch erzeugte eine andere Bewegung links neben ihm, in der Richtung, in der sich die Kerze befand. Etwas raschelte, dann nahm er einen noch dunkleren Schatten in der Dämmerung wahr. Ein Gesicht - es kam ihm seltsam vertraut vor, aber er wusste nicht wieso - beugte sich über ihn, helle und sehr klare Augen blickten mit eindeutiger Sorge auf ihn herab.
»Versucht nicht, Euch zu bewegen«, sagte der Fremde. »Ich bringe Euch Wasser.« Er löste sich in der falschen Dämmerung auf, ohne sich wirklich zu bewegen, und schien im gleichen Moment schon wieder zu erscheinen, einen aus Holz geschnitzten Becher in der einen und ein sauberes Tuch in der anderen Hand. Andrej hätte sein Leben für einen einzigen Schluck aus diesem Becher gegeben, auch wenn ihm erst bei seinem Anblick überhaupt klar wurde, wie durstig er war, aber der junge Mann tauchte nur einen Zipfel des Tuches hinein, beugte sich vor und betupfte seine Lippen. Sie waren so trocken, dass die Nässe im ersten Moment schmerzte, aber zugleich tat sie auch unglaublich gut.
Sein Wohltäter - er trug ein schlichtes dunkles Gewand, fast wie eine Mönchskutte - wartete, bis die wenigen Tropfen auf seinen Lippen versickert waren, dann wiederholte er die Prozedur noch einige Male, bis er endlich den Becher ansetzte und Andrej gestattete, einige wenige Schlucke zu trinken.
»Das genügt«, sagte er, während er den Becher absetzte. »Ich weiß, diese wenigen Schlucke reichen nicht, um Euren Durst zu löschen, aber mehr wäre nicht gut. Ihr würdet Euch wahrscheinlich erbrechen.«
Andrej wusste, dass er Recht hatte, aber das machte die Qual nicht geringer.
Er versuchte zu sprechen, doch es gelang ihm erst, nachdem er zum dritten oder vierten Mal dazu angesetzt hatte.
»Abu ... Dun«, krächzte er. Die beiden Worte brannten wie Feuer in seiner Kehle.
»Versucht nicht zu reden«, sagte der Fremde. »Wenn Ihr Euren dunkelhäutigen Freund meint, er ist am Leben. Macht Euch keine Sorgen. Jetzt schlaft. Ihr habt das Schlimmste überstanden, aber Ihr habt viel Blut verloren und solltet mit Euren Kräften haushalten, wenn Ihr keinen Rückfall riskieren wollt. Also schlaft.«
Andrej gehorchte. Als er wieder erwachte, war die Kerze heruntergebrannt, aber es war trotzdem heller geworden. Graues Zwielicht erfüllte das Zimmer, und es war noch immer bitter kalt.
Er drehte mühsam den Kopf und erkannte eine schlanke Gestalt, die nach vorne gesunken auf einem Stuhl neben seinem Bett saß und schlief. Der junge Prediger, der ihm Wasser gegeben hatte. Es war derselbe Mann, den er nachts im Torgang beinahe erschlagen hätte.
Der Folterknecht.
Es fiel Andrej schwer, in diesem jungen Geistlichen mit den wachen Augen und der freundlichen Stimme eines der Monster zu sehen, die dem unschuldigen Kind all diese Gräueltaten angetan haben sollten. Immerhin schien er die ganze Nacht an seinem Krankenlager gewacht zu haben - wie seine Anwesenheit bewies.
Aber er hätte auch nicht vermutet, dass Birger ihm seine Hilfe dankte, indem er ihm ein Messer in den Rücken stoßen ließ.
Die Erinnerung ließ einen Schatten über sein Gesicht huschen. Birger ...
Wie hatte er sich nur so in diesem Mann täuschen können?
Vielleicht war die Frage auch falsch gestellt. Er hatte sich nicht wirklich in ihm getäuscht. Er hatte zumindest geahnt, dass mit Birger etwas nicht stimmte, und er hatte ganz tief in sich gespürt, dass er gefährlich war. Warum hatte er nicht auf seine innere Stimme gehört? Und wenn schon nicht auf sie, dann zumindest auf Abu Dun?
Mit dem Gedanken an den Nubier schlief er ein, und als er erwachte, hatte sich das Licht abermals verändert: Heller, sehr klarer Sonnenschein erfüllte das Zimmer. Es roch nach Schnee. Sein Wohltäter stand mit dem Rücken zu ihm vor einer Truhe an der gegenüberliegenden Wand und hantierte an etwas herum, das Andrej nicht erkennen konnte. Gedämpftes Glockengeläut drang durch das offen stehende Fenster herein, und irgendwo weit entfernt wieherte ein Pferd.
Andrej lauschte in sich hinein. Er fühlte sich noch immer sehr schwach, aber er hatte keine Schmerzen, und auch das Fieber war fort. Behutsam richtete er sich auf, schlug die dünne Decke zur Seite und stellte fest, dass er nicht ganz so nackt war, wie er sich unter der rauen Rosshaardecke gefühlt hatte: Ein enger Ring aus Metall schmiegte sich um sein rechtes Fußgelenk, an dem eine massiv wirkende Kette befestigt war. Als er daran zog, stellte er fest, dass ihm die Kette gerade genug Bewegungsfreiheit ließ, um aus dem Bett aufzustehen und zwei oder vielleicht auch drei Schritte zu tun.
»Versucht lieber nicht aufzustehen«, sagte der junge Priester. »Ihr mögt Euch vielleicht wieder kräftig fühlen, aber glaubt mir, Ihr seid es nicht.« Er drehte sich herum, lehnte sich gegen die Truhe und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Habt Ihr jetzt ausgeschlafen, Andrej?«
Andrej stemmte sich auf die Ellbogen hoch und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er versuchte nicht zu antworten, denn seine Kehle war so trocken, dass sie wehtat, aber der junge Priester verstand wohl auch so. Er füllte Wasser aus einem Krug in den geschnitzten Becher, den Andrej schon kannte, und reichte ihn ihm. Allerdings trat er nicht nahe genug an das Bett heran, um Andrej eine Möglichkeit zu geben, ihn überraschend zu packen.
Andrej nahm den Becher, trank einen gierigen Schluck und hustete qualvoll. Nachdem sich sein Atem einigermaßen beruhigt hatte, leerte er den Becher mit sehr viel vorsichtigeren kleinen Schlucken und leckte auch den letzten Tropfen mit der Zungenspitze von den Lippen. Sein Durst war keineswegs gestillt, aber seine Kehle brannte wenigstens nicht mehr wie Feuer.
»Danke«, sagte er, während er den Becher zurückgab. Er wäre fast vor dem Klang seiner eigenen Stimme erschrocken. »Woher kennt Ihr meinen Namen?«
»Von meinem Vater«, antwortete der Priester. »Ich bin Bruder Thobias. Wie fühlt Ihr Euch?«
»Besser«, antwortete Andrej - was zwar der Wahrheit entsprach, im Grunde aber so gut wie nichts besagte.
»Das freut mich«, antwortete Thobias. Es klang ehrlich. »Eine Weile sah es gar nicht gut um Euch aus. Der Mann hat Euer Herz nur knapp verfehlt. Ihr seid ein zäher Bursche.«
»Aber Ihr habt mich anscheinend auch gut gepflegt«, erwiderte Andrej mit einer Geste auf den straff angelegten weißen Verband um seine Brust. »Ich nehme an, ich soll in möglichst guter Verfassung sein, wenn Ihr mich auf die Folterbank spannt.«
Thobias Miene verfinsterte sich. »Ihr wart unten im Verlies«, sagte er. »Sagt, habt Ihr eine Folterbank gesehen, oder irgendwelche anderen Marterwerkzeuge?«
»Ich habe die Zellen gesehen«, antwortete Andrej. »Und das Mädchen.«
»Ich weiß, was Ihr gesehen habt«, erwiderte Thobias ruhig. »Aber ich glaube, Ihr wisst nicht, was Ihr gesehen habt.« Er machte eine Geste, mit der er das Gespräch beendete. »Wir werden später noch Gelegenheit haben, darüber zu reden. Vielleicht. Jetzt solltet Ihr erst wieder zu Kräften kommen. Ich werde Euch eine kräftige Mahlzeit bringen. Ich nehme an, dass Ihr hungrig seid.«
»Eigentlich nicht«, antwortete Andrej. »Jedenfalls nicht sehr.«
»Das wundert mich«, sagte Thobias. »Immerhin habt Ihr zehn Tage lang nichts gegessen.«
»Zehn Tage?«, entfuhr es Andrej.
»Elf, den heutigen mitgerechnet«, entgegnete Thobias. »Ich sagte Euch doch, Eure Lage war sehr ernst. Einige Tage war ich nicht sicher, dass Ihr es schafft. Ich habe für Euch gebetet, und wie es aussieht, hat Gott meine Gebete erhört.« Er gab sich einen Ruck. »Aber nun hole ich Euch erst einmal etwas zu essen, und danach sollten wir Euch waschen und einigermaßen ansehnlich anziehen. Ihr müsst noch heute mit Vater Benedikt sprechen.«
Er sah Vater Benedikt an diesem Tag nicht mehr. Als Thobias nach wenigen Minuten mit der versprochenen Suppe zurückkam, fand er Andrej in tiefem, traumlosem Schlaf vor, aus dem er erst am nächsten Morgen wieder erwachte, halbwegs erfrischt, aber mit knurrendem Magen und so ausgehungert, dass er nicht nur die kalte Suppe vom vergangenen Abend herunterschlang, sondern anschließend noch fast eigenen ganzen Laib Brot und ein gutes Stück einer Speckseite, und dazu einen ganzen Krug des kalten, klaren Quellwassers trank. Vermutlich hätte er auch dann noch nicht aufgehört, hätte Thobias nicht lächelnd, aber unerbittlich den Kopf geschüttelt, als er ihn um mehr bat.