Stattdessen kam er mit Wasser, einem gewaltigen Stück Kernseife und frischen Tüchern, sodass Andrej sich reinigen konnte, was dringend notwendig war. Zehn Tage, in denen er fiebernd dagelegen hatte, forderten ihren Preis. Er stank kaum weniger schlimm als das Mädchen, das sie aus dem Kerker befreit hatten. Thobias trug nicht nur die schmutzigen Verbände, sondern auch seine Kleider und selbst das Bettzeug nach draußen, um es zu verbrennen. Bevor er ihm half, frische Kleider anzuziehen, bat er ihn, sich auf den Bauch zu legen, damit er sich die Wunde in seinem Rücken noch einmal ansehen konnte. Andrej gehorchte. Thobias betastete die Stichwunde zwischen seinen Schulterblättern mit kundigen Fingern und trug anschließend eine angenehm kühle, nach Kräutern riechende Salbe auf.
»Erstaunlich«, sagte er, während er einen frischen Verband anlegte. »Ich habe schon eine Menge schlimmer Verletzungen gesehen, aber selten einen Mann, der sich so schnell erholt. Die Wunde sieht aus, als wäre sie zwei Monate alt, nicht zwei Wochen. Gehen Eure Krankheiten ebenso schnell vorbei?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Ich war noch nie krank.«
»Niemals?«, fragte Thobias zweifelnd.
»Niemals.« Andrej griff nach dem Hemd, das Thobias ihm reichte, und schlüpfte hinein. Der Stoff war so grob, dass er auf der Haut scheuerte.
»Gott muss Euch wirklich lieben, mein Freund«, sagte Thobias kopfschüttelnd.
Gott hat damit wenig zu tun, dachte Andrej. Ganz im Gegenteil. Wenn es ihn wirklich gibt, dann muss er mich ganz außergewöhnlich hassen. Und ich weiß nicht einmal, warum.
Er sprach nichts von alledem aus, aber Thobias musste seine wahren Gefühle wohl gespürt haben. Er sagte nichts, aber sein Lächeln erlosch.
»Vater Benedikt wird gleich hier sein«, sagte er. »Es wäre klug, wenn Ihr nicht darüber reden würdet.«
»Worüber?«
»Dass Ihr nie krank werdet«, antwortete Thobias. »Oder wie schnell Eure Wunden heilen. Vater Benedikt ist ein sehr strenggläubiger Katholik, der das falsch deuten könnte.«
Andrej war plötzlich auf der Hut. Thobias' Worte mochten Zufall sein, ebenso gut aber auch eine geschickte Falle, die er ihm stellte. Aber als er in seine Augen blickte, sah er keinerlei Hinterlist oder Tücke darin.
»Und Ihr?«, fragte er.
»Auch ich bin ein strenggläubiger Katholik, wenn ihr das meint«, antwortete Thobias. »Aber ich bin nicht wie viele hier. Ich glaube nicht, dass Satan es uns so leicht macht. Doch wie gesagt: Ihr solltet Vater Benedikt gegenüber vorsichtig mit dem sein, was Ihr redet. Und noch etwas.«
»Ja?«, fragte Andrej, als Thobias nicht sofort antwortete.
Thobias sah ihm in die Augen, aber sein Blick war nicht mehr so fest wie bisher. Andrej hatte das sichere Gefühl, dass ihm das, was er zu sagen hatte, nicht sehr angenehm war. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Ich will ganz offen zu Euch sein, Andrej. Ich bin der Meinung, dass Ihr mir etwas schuldig seid.«
»Zum Beispiel?«, fragte Andrej.
»Zum Beispiel Euer Leben«, antwortete Thobias. »Die Wachen wollten Euch töten. Immerhin habt Ihr und Euer Kamerad fünf von ihnen erschlagen und f ast alle anderen übel zugerichtet. Es hat mich meine ganze Überredungskunst gekostet, dass sie Euch nicht getötet oder einfach liegen gelassen haben - was auf das Gleiche hinausgelaufen wäre.«
»Und was erwartet Ihr nun von mir?«, wollte Andrej wissen.
Thobias räusperte sich, um seine Verlegenheit zu überspielen. »Vater Benedikt ist unser Abt«, sagte er, »aber er ist nur selten hier. In seiner Abwesenheit leite ich das Kloster, aber das ändert nichts daran, dass er das Sagen hat. Und er ist ein sehr harter Mann. Bedenkt man, womit wir es zu tun haben, so muss er das wohl sein.«
»Aha«, sagte Andrej. Er verstand immer weniger. »Und was wollt Ihr jetzt von mir? Nur zu: Ich weiß, dass ich nur noch lebe, weil Ihr es so wollt.«
»Bitte sagt ihm nicht, wer Euch geschickt hat, und woher Ihr kommt«, sagte Thobias. »Niemand hier weiß, dass Birger Euer Auftraggeber ist und Ihr und Euer Freund aus Trentklamm gekommen seid.«
»Warum?«, fragte Andrej misstrauisch.
Thobias wich seinem Blick aus. Er wurde zunehmend unruhiger. »Die Menschen in Trentklamm sind aufrechte und gottesfürchtige Leute. Urteilt nicht über alle, nur weil einige von ihnen schlecht sind. Ich weiß, dass Ihr Birger hassen müsst, aber lasst nicht die Unschuldigen für ihn bezahlen.«
»Und?«, fragte Andrej.
»Vater Benedikt würde Trentklamm niederbrennen und jede lebende Seele dort auslöschen lassen, wüsste er, wer hinter dem Überfall steckt«, antwortete Thobias. »Ich habe bereits mit Eurem Freund gesprochen. Er ist einverstanden zu sagen, dass ihr von einem Fremden in einem Gasthaus einen halben Tagesritt westlich von hier angesprochen worden seid, das Mädchen für Geld zu befreien.«
»Abu Dun hat Euch das zugesagt?«, fragte Andrej zweifelnd.
»Zugesagt vielleicht nicht direkt«, gestand Thobias. »Aber ich habe mit ihm gesprochen, und er hat meinen Vorschlag zumindest nicht abgelehnt. Genau genommen hat er eigentlich gar nichts gesagt.«
»Ja, das klingt nach Abu Dun«, sagte Andrej. »Kann ich ihn sehen?«
»Vielleicht später«, antwortete Thobias. »Sobald Ihr mit Vater Benedikt gesprochen habt. Seid Ihr bereit dazu?«
»Warum nicht?«, fragte Andrej.
Thobias nickte knapp und ging. Ziemlich schnell. Beinahe ein wenig zu schnell, für Andrejs Empfinden.
Der greise Abt entsprach Andrejs Vorstellungen von einem alt gewordenen, verbitterten Kirchenoberen. Er ähnelte Vater Ludowig, musste aber einige Jahre jünger sein und war besser genährt und auch deutlich gesünder, aber der Ausdruck von niemals versiegendem Misstrauen und einem tief eingebrannten Groll gegen die ganze Welt in seinen Augen war derselbe wie der in denen Ludowigs.
Er kam nicht allein, sondern in Begleitung zweier Soldaten, die rechts und links von ihm Aufstellung nahmen und die ganze Zeit über die Hände griffbereit auf den Waffen ruhen ließen; und das, obwohl Benedikt streng darauf achtete, nicht in Reichweite der Kette zu gelangen, mit der Andrej gefesselt war. Die Männer wussten anscheinend, wie gefährlich er war.
Andrej meinte einen von ihnen wieder zu erkennen, war aber nicht sicher.
Seiner Erinnerung nach hätte der Kampf auf dem Hof auch zehn Jahre her sein können.
Vater Benedikt sah ihn lange und durchdringend an, ohne ein Wort zu sprechen. Sein Gesicht war wie Stein; eine zerfurchte Landschaft aus verästelten Runzeln und Falten, die so tief eingeschnitten waren wie Messernarben. Andrej versuchte in seinen Augen zu lesen, aber es gelang ihm nicht.
»Ihr seid also dieser Söldner«, sagte Vater Benedikt schließlich. Allein die Art, in der er das Wort Söldner aussprach, beantwortete eine Menge der Fragen, die sich Andrej noch gar nicht gestellt hatte.
»Ich bin kein Söldner, Benedikt«, antwortete Andrej.
»Wir ziehen die Anrede Durchlaucht vor, Andrej«, sagte Vater Benedikt. »Oder auch Vater«
»Durchlaucht?« Andrej hob die Schultern. »Ganz, wie Ihr wünscht. Aber wir sind keine Söldner. Nicht in dem Sinne, in dem Ihr das Wort benutzt.«
In Vater Benedikts Augen blitzte es auf. Andrej wusste, dass er ein gefährliches Spiel spielte. Er durfte nicht den Fehler begehen, sich von Benedikts scheinbarer Würde und Gebrechlichkeit täuschen zu lassen. Vater Benedikt war wie Vater Ludowig - allerdings ein Vater Ludowig mit Macht und ziemlich wenig Skrupeln, diese Macht zu nutzen. Oder zu missbrauchen.