»Und was hat das Mädchen damit zu tun?«
»Imret? Birgers Tochter?«
Andrej war überrascht. »Ihr kennt seinen Namen?«
»Wir sind zusammen aufgewachsen«, antwortete Thobias.
»Birger und Ihr?« Andrej war nicht sicher, ob er Thobias richtig verstand.
»Birger«, bestätigte Thobias. »Er ist mein Pate - habe ich das nicht erwähnt?«
Andrej starrte den jungen Geistlichen vollkommen verständnislos an.
Thobias fuhr jedoch ohne Pause fort: »Bis vor fünf Jahren war Trentklamm ein kleiner Ort mit gottesfürchtigen Menschen, die ihre Arbeit taten, in die Kirche gingen und sich um ihre Lieben kümmerten. Und eigentlich ist das auch jetzt noch so.«
Hätte Thobias nicht diesen sonderbaren Blick gehabt und mit einer Stimme gesprochen, als rede er mehr mit sich selbst, dann hätte Andrej ihn an dieser Stelle unterbrochen, denn der Eindruck, den Abu Dun und er von diesem Ort und seinen gottesfürchtigen Menschen gewonnen hatten, war ein völlig anderer. Aber er war beinahe sicher, dass Thobias ihm gar nicht zugehört hätte. Man konnte dem jungen Priester ansehen, wie ihm die Erinnerung zu schaffen machte, die er mit seinen eigenen Worten heraufbeschwor, und so fasste er sich in Geduld und hörte weiter zu.
»Irgendwann begann es«, berichtete Thobias. »Seltsame Geräusche, die die Menschen nachts aus dem Schlaf rissen. Unheimliche Spuren im Schnee, und ... Dinge, die den Mond anheulten. Dann wurden die ersten Tiere gerissen.«
»Und schließlich Menschen«, vermutete Andrej.
Zu seiner Überraschung schüttelte Thobias den Kopf. »Es wurde ein Toter gefunden«, sagte er. »Ein schrecklich verstümmelter Mensch, so schlimm, dass alle dachten, der Teufel selbst sei aus der Hölle emporgestiegen, um den Menschen zu zeigen, was sie im Jenseits erwartete. Auch ich dachte das damals, aber heute glaube ich, dass es eine dieser Kreaturen war. Niemand konnte sich vorstellen, dass es Gottes Wille sei, so etwas zu erschaffen.«
»Wenn es Euren allmächtigen Gott wirklich gibt, dann habt Ihr aber ein seltsames Bild von ihm«, sagte Andrej. Er bedauerte die Worte schon, bevor er sie ausgesprochen hatte, aber es war zu spät. Thobias sah auf und funkelte ihn an. Der erwartete Zornesausbruch blieb jedoch aus. Stattdessen erlosch die Wut und machte einer Mischung aus Trauer und Bitterkeit Platz.
»So viele sind gestorben«, murmelte er. »So viele unschuldige Menschen, deren Leben ausgelöscht wurde.«
»Ja, ihr sagtet, diese ...« Andrej deutete auf Thobias' krakelige Tuschezeichnung. Seltsamerweise hatte er Schwierigkeiten, das nächste Wort auszusprechen. »...diese Monster hätten Menschen getötet.«
»Nicht nur sie«, antwortete Thobias. »Das waren auch wir. Ich, Andrej. Nicht mit meinen eigenen Händen, aber mit dem, was ich getan habe. Was ich gesagt habe. Wisst Ihr, was für eine gefürchtete Waffe das Wort ist, Andrej? Schlimmer als jedes Schwert, und heißer als jedes Feuer.«
Ob er das wusste? Andrej hätte beinahe laut aufgelacht.
»Nach jener schrecklichen Nacht, in der wir auf das Ungeheuer trafen«, fuhr Thobias fort, »hatte ich nichts Besseres zu tun, als zu Vater Benedikt zu gehen und ihm zu berichten, was uns widerfahren war. Ich habe es in bester Absicht getan, Andrej, das müsst Ihr mir glauben. Ich dachte, ich wäre es den braven Menschen von Trentklamm schuldig, ihre Seelen vor dem Satan zu retten.«
Sein Blick und seine Stimme wurden hart. »Keine drei Wochen später erschien die Inquisition in Trentklamm, zusammen mit einer Abteilung Soldaten des Landgrafen. O ja, sie haben den Menschen dort geholfen. Mit Feuer und Schwert haben sie den Teufel aus der Stadt getrieben.«
Seine Stimme brach. Er konnte nicht weitersprechen, und seine Hände schlossen sich mit solcher Kraft um die Tischplatte, dass seine Knöchel knackten.
»Und was hat das alles mit dem Mädchen zu tun?«, fragte Andrej, um Thobias aus der Hölle seiner Erinnerungen zurück in die Wirklichkeit zu holen.
»Imret?« Thobias schluckte. »Sie und Wenzel waren die Einzigen, die das Strafgericht der Inquisition überlebten. Vater Benedikt und ich haben sie hierher gebracht.«
»Um sie zu foltern«, murmelte Andrej.
»Das haben wir nicht getan!«, behauptete Thobias. »Ich weiß, was Ihr gesehen habt, Andrej, aber glaubt mir, es ist nicht das, wonach es aussieht. Wir haben diesen armen Menschen Schreckliches angetan. Ich habe ihnen Schreckliches angetan, mit meinen eigenen Händen, und wenn ich eines Tages vor Gottes Strafgericht stehe, dann werde ich ohne Zweifel dafür büßen müssen. Aber es geschah nicht aus Grausamkeit, sondern um ihnen zu helfen.«
»Das sind genau die Worte, die ich einst aus dem Mund eines Inquisitors gehört habe«, zischte Andrej. »Ich glaube, er sprach sie in dem Augenblick, als er die Zangen ins Feuer legte.«
Er fragte sich, warum er das sagte. Erstens entsprach es nicht der Wahrheit, und zweitens war er auf dem besten Wege, sich um Kopf und Kragen zu reden. Trotz Thobias' unerklärlicher Offenheit lag sein Leben in den Händen des jungen Geistlichen. Er wusste noch immer nicht, was er von seinem Gegenüber zu halten hatte.
Vielleicht war Thobias wirklich das, was er zu sein vorgab, aber möglicherweise war er auch einfach nur verrückt und gefährlicher als Vater Benedikt.
Er wurde auch jetzt nicht zornig, sondern lächelte nur matt, als hätte er genau diese Antwort Andrejs erwartet.
»Ihr habt völlig Recht, Andrej«, sagte er. »Es hieße, Gott zu erniedrigen, wollte man behaupten, dass er es zuließe, dass Satans Kreaturen frei auf der Erde wandeln.« Er machte wieder eine Kopfbewegung in Richtung der Zeichnung. »Ich habe diese Kreatur gesehen. Ich habe mit ihr gekämpft, Andrej, und sie hätte mich fast umgebracht. Aber ich glaube nicht, dass es ein Dämon war.«
Das glaubte Andrej ebenso wenig. Trotzdem fragte er: »Was sonst?«
»Das versuche ich seit zwei Jahren herauszufinden«, antwortete Thobias. Er schüttelte den Kopf. »Mein Vater und ich haben damals auf Vater Benedikt eingeredet, und am Ende gelang es uns, ihn zu überzeugen. Wäre es nach der Inquisition gegangen, hätten sie Trentklamm bis auf die letzte Seele ausgelöscht und das Dorf am Ende niedergebrannt. Aber es gelang uns, Vater Benedikt auf unsere Seite zu ziehen. Lasst Euch nicht von seinem weißen Haar und seiner Art zu sprechen täuschen, Andrej. Er ist ein sehr weltoffener Mann, der weiß, dass es töricht wäre, alles, was wir nicht verstehen, sofort dem Satan zuzuschreiben. Er gab uns dieses leer stehende Kloster und Zeit, um das Geheimnis der Ungeheuer zu ergründen.«
»Ist es Euch gelungen?«, fragte Andrej. Er kannte die Antwort.
»Ich habe einiges herausgefunden«, sagte Thobias traurig. »Doch ich bin auf mehr neue Fragen als Antworten gestoßen. Und nun läuft unsere Frist ab. Ihr habt Vater Benedikt gehört. Es geht nicht nur um Euch und Euren Freund, Andrej. Oder um mich. Wenn Vater Benedikt zurückkommt, dann wird er nicht allein sein. Sie werden nachholen, was sie vor zwei Jahren versäumt haben, und Trentklamm auslöschen - und diesen Ort hier gleich dazu.« Er schwieg einen Moment, während er Andrej durchdringend und auffordernd zugleich ansah. »Es sei denn, wir finden den Beweis, dass die Menschen hier nicht vom Teufel besessen sind.«
Einen Beweis, der vor der Inquisition Geltung finden würde? Andrej wusste, dass dies nahezu unmöglich werden würde. Selbst wenn sie einen unumstößlichen Beweis für die Behauptung hätten, dass der Teufel nicht Einzug in Trentklamm gehalten hatte, wäre das für die Inquisition nur ein weiteres Indiz für die Heimtücke Satans gewesen.
»Und diesen Beweis soll ich bringen?«, vermutete er. Als Thobias nicht antwortete, fügte er kopfschüttelnd hinzu: »Wie stellt Ihr Euch das vor?«
»Wir müssen sie finden«, sagte Thobias. »Birger und die anderen. Wir müssen sie dingfest machen, bevor Vater Benedikt zurückkehrt, oder ganz Trentklamm wird brennen.«