Die beiden Bewaffneten zerrten eine dritte Gestalt zwischen sich her, deren Handgelenke mit langen Seilen gefesselt waren. Sie trug ein einfaches, schmutz-starrendes Gewand, und das lange Haar hing ihr wirr in die Stirn, sodass Andrej ihr Gesicht nicht erkennen konnte.
»Was haben die vor?«, murmelte Abu Dun.
Genau das fragte sich Andrej auch. Zweifellos war die gefesselte Gestalt das nächste Opfer, das für den Scheiterhaufen vorgesehen war - aber die Hitze des brennenden Reisigstapels war so gewaltig, dass sich ihm niemand auf mehr als fünf Schritte nähern konnte, ohne sich selbst zu verbrennen. Feuer dieser Intensität pflegten sich in ihrer Wut rasch selbst zu verzehren, aber Andrej schätzte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis die Flammen weit genug heruntergebrannt waren, um sich dem Pfahl zu nähern. Sie hatten also Zeit.
Andrej beobachtete stirnrunzelnd, wie die beiden Bewaffneten langsam auf den Scheiterhaufen zugingen, wobei sie immer weiter auseinander wichen. Die Stricke in ihren Händen hielten sie dabei straff gespannt, sodass ihr unglückseliges Opfer gezwungen wurde, mit weit ausgebreiteten Armen zwischen ihnen auf den Scheiterhaufen zuzustolpern. Als es die Hitze des Feuers spürte, bäumte es sich verzweifelt auf und warf den Kopf in den Nacken, und Andrej erkannte zum einen, dass es sich um eine Frau handelte, und zum anderen - »Maria!«
Andrej riss in der gleichen Bewegung das Schwert aus der Scheide, in der er aufsprang und losstürmte. Immer wieder Marias Namen schreiend, raste er den Hang hinab, fuhr wie ein Wirbelsturm unter die völlig verblüfften Dorfbewohner und stieß zwei oder drei Männer, die sich ihm in den Weg stellen wollten, einfach zu Boden. Die anderen wichen erschrocken vor ihm zurück, und Andrej stürmte weiter auf den Scheiterhaufen zu. Er wusste nicht, ob Abu Dun ihm folgte, aber es war auch nicht von Bedeutung.
Einer der beiden Bewaffneten hatte ebenfalls von ihm Notiz genommen. Er ließ den Strick um Marias Handgelenk nicht los, und er hörte auch nicht auf, sie auf den Scheiterhaufen zuzuzerren, aber er fuhr trotzdem zu Andrej herum und riss dabei mit der linken Hand das Schwert aus dem Gürtel. Andrejs Waffe vollführte eine blitzartige, halbkreisförmige Bewegung, und das Schwert des Soldaten wirbelte davon; zusammen mit der Hand, die es hielt.
Der Mann starrte seinen eigenen Armstumpf aus hervorquellenden Augen an, dann begann er in hohen, schrillen Tönen zu kreischen und sank auf die Knie, und Andrej stürmte in unvermindertem Tempo an ihm vorbei und griff seinen Kameraden an.
Der Mann hatte das Seil losgelassen und sein eigenes Schwert gezogen, das er nun mit beiden Händen hielt, und er erwies sich als weitaus wendiger als sein Kamerad. Andrej musste dreimal zuschlagen, bis er ihn überwand. Mit dem dritten Hieb enthauptete er den Mann.
Noch bevor der plötzlich kopflose Leichnam zu Boden sank, wirbelte Andrej herum, war mit einem einzigen Satz bei dem Priester und stieß ihm das Schwert bis ans Heft in die Brust. Der Mann starb schnell, aber Andrej erkannte an dem Ausdruck in seinen Augen, dass es kein gnädiger Tod war. Er starb in der festen Überzeugung, dem Satan gegenüberzustehen, und Andrej hoffte inständig, dass er ihm nach seinem Ableben auch wirklich begegnen würde, falls es so etwas wie ein Jenseits tatsächlich gab.
Er riss das Schwert aus der Brust des Sterbenden, fuhr herum und war mit zwei gewaltigen Sätzen bei Maria, die zu Boden gesunken war und sich vor Angst und Schmerz krümmte.
Aber es war nicht Maria. Sie sah ihr nicht einmal ähnlich. Das Mädchen war allerhöchstens sechzehn und hatte strähniges rotblondes Haar, und sein Gesicht war vermutlich hübsch, wenn man sich den Schmutz, die zahlreichen blauen Flecke und Prellungen und die nässenden Brandblasen wegdachte. Ihre Augen waren riesig und fast schwarz vor Furcht, und obwohl sie Andrej direkt anblickten, war er sicher, dass sie ihn nicht sah.
Trotzdem sagte er: »Du musst keine Angst mehr haben. Du bist in Sicherheit. Niemand wird dir etwas tun.«
Er bekam keine Antwort. Der Blick des Mädchens blieb weiter auf etwas Unfassbares gerichtet, das sich in unendlicher Entfernung zu befinden schien.
Andrej richtete sich auf, drehte sich um und ergriff sein Schwert fester.
Nicht, dass es notwendig gewesen wäre. Ganz wie Abu Dun vorausgesagt hatte, waren die Dorfbewohner in heller Panik davongerannt; spätestens in dem Moment, in dem sie gesehen hatten, wie er die beiden Soldaten erschlug.
Zwei oder drei reglose Körper, deren genauen Zustand Andrej im Licht des Feuers nicht beurteilen konnte, gehörten wohl den wenigen, die entweder dumm genug oder zu langsam gewesen waren, Abu Dun aus dem Weg zu gehen, und er hörte entfernte Schreie und hastige Schritte.
Abu Dun selbst kam ohne sonderliche Eile auf ihn zu, und hätte es hinter Andrejs Stirn nicht noch immer gewütet, dann hätte er vielleicht den Anblick bemerkt, den sein Freund bot. Denn der hünenhafte Nubier schleifte eine reglose Gestalt hinter sich her, die er kurzerhand am Fußgelenk gepackt hatte.
Der Ausdruck auf Abu Duns Gesicht war fast noch schwärzer als seine Haut, und er spießte Andrej mit Blicken regelrecht auf.
»Maria, wie?«, grollte er. »Daher also dein plötzlicher Sinneswandel.«
»Ich habe gedacht...«
»Du hast gedacht«, unterbrach ihn Abu Dun wütend, »dass einer von deiner Art in Gefahr wäre, nicht wahr? Was ist jetzt mit deiner hehren Gesinnung? Wie war das doch gleich? Wir haben nicht das Recht, Unschuldige zu töten, um Unschuldige zu retten? Sind die Leute hier plötzlich weniger unschuldig, nur weil diesmal einer von deiner eigenen Art in Gefahr war?«
»Du hast Recht«, sagte Andrej leise. »Es tut mir Leid. Aber ich ... ich konnte plötzlich nicht anders. Ich dachte, es wäre Maria.«
»Deine Maria«, antwortete Abu Dun böse, »ist vermutlich seit zehn Jahren tot. Und wenn nicht, dann will sie nichts von dir wissen. Begreif das endlich!«
Andrej musste sich mit aller Macht beherrschen, um den Piraten nicht anzugreifen. Rasende Wut verschleierte seinen Blick, und das Schwert in seiner Hand schien sich fast gegen seinen Willen heben zu wollen, um nach der Kehle des Piraten zu züngeln.
Dann, so schnell, wie sein Zorn gekommen war, verschwand er auch wieder, und er fühlte sich so erbärmlich, als hätte er sein Ansinnen laut ausgesprochen.
Abu Dun schien zu ahnen, was in ihm vorging.
»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte er. »Sie sind zwar weg, aber wenn sie ihren ersten Schrecken überwunden haben, könnten sie auf den Gedanken kommen, sich zusammenzurotten und uns als neues Brennmaterial für ihren Scheiterhaufen zu benutzen.«
»Hast du etwa Angst?«, fragte Andrej spöttisch.
»Nein«, antwortete Abu Dun. »Aber ich bin nicht versessen darauf, noch ein paar Schädel einzuschlagen. Es langweilt mich. Die beiden einzigen richtigen Gegner hast du ja für dich beansprucht.«
Andrej blieb ernst. »Wer ist das?«, fragte er mit einer Geste auf den Mann, den Abu Dun am Fuß hinter sich herzerrte.
Abu Dun sah mit gespielter Überraschung auf den Bewusstlosen herab, dann runzelte er die Stirn, als müsse er angestrengt nachdenken. »Oh, das«, sagte er dann. »Das habe ich gefunden. Willst du es haben?«
»Nur, wenn es sprechen kann«, antwortete Andrej. »Lebt es noch?«
»Das werden wir gleich herausfinden«, sagte Abu Dun. Er grinste, ließ den Fuß des Bewusstlosen los und beugte sich über ihn. Andrej konnte nicht erkennen, was er tat, aber es verging nur ein kurzer Moment, bis der Mann die Augen aufschlug und prompt zu schreien begann. Abu Dun versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, und die Schreie des Mannes verstummten.
»Schlag ihn nicht tot«, mahnte Andrej absichtlich so laut, dass ihr Gefangener es hören musste. »Wenigstens noch nicht. Ich will mit ihm reden.«