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Das war keine Antwort auf seine Frage, aber die hatte Andrej auch nicht erwartet.

»Wieso vertraut Ihr mir?«, wollte er wissen. »Ihr kennt mich nicht. Ihr wisst nichts über mich, außer dass ich hier eingedrungen bin und ein paar Eurer Leute erschlagen habe. Also was sollte mich daran hindern, auf mein Pferd zu steigen und meiner Wege zu ziehen?«

Thobias überraschte ihn ein weiteres Mal, indem er nicht darauf verwies, dass er schließlich Abu Dun als Faustpfand hätte. Stattdessen sah er ihn nur erneut auf diese sonderbar durchdringende Weise an und sagte: »Nennt es Verzweiflung, wenn Ihr so wollt, Andrej. Ich habe keine Wahl, als Euch zu vertrauen. Und ich spüre, dass ich es kann. Ihr habt Recht: Ich weiß nicht, was oder wer Ihr seid, aber ich glaube, Ihr seid ein aufrechter Mann.« Ein dünnes Lächeln stahl sich für einen Augenblick in den Ausdruck von Trauer. »Und außerdem habt Ihr noch eine Rechnung mit Birger offen. Also ... kann ich auf Euch zählen?«

Das war verrückt, dachte Andrej. Aber zumindest in einem Punkt erging es ihm nicht anders als Thobias: Er hatte keine Wahl.

Das Dorf hatte sich verändert. Als er Trentklamm das erste Mal gesehen hatte, da war ihm der Ort wie ein verschlafenes kleines Bergdorf vorgekommen, außergewöhnlich durch diese besondere Lage zwischen den Hängen, die ihn fast zu einer natürlichen Festung machte. Jetzt wirkten die kleinen Häuser nur noch abweisend und feindselig, jedes einzelne eine kleine Festung, die sich wie ein sprungbereit zusammengekauertes Raubtier in die Bergflanken krallte. Etwas Feindseliges, Böses schien über dem Ort zu liegen.

Andrej verscheuchte den Gedanken und fuhr sich müde mit dem Handrücken über das Gesicht. Trentklamm hatte sich nicht im Geringsten verändert. Es war sein Blick, der sich verändert hatte.

Er spürte irgendwo eine leichte Bewegung und wich rasch in den Schutz des Waldes zurück, obwohl es wahrscheinlich gar nicht notwendig war. In den dunkelbraunen und schwarzen Kleidern, die Thobias ihm gegeben hatte, musste er vor dem Hintergrund der Bäume nahezu unsichtbar sein. Außerdem war die Sonne gerade erst aufgegangen und stand als grellweiß lodernde Scheibe genau über den Berggipfeln in seinem Rücken. Wer immer zufällig in seine Richtung blickte, würde nichts anderes sehen als weißes Licht, das grell genug war, um ihm die Tränen in die Augen zu treiben. Auch wenn er Trentklamm Unrecht tat und sich der Ort nicht verändert hatte ... etwas stimmte nicht mit ihm, mit seinen Menschen. Andrej hatte das unheimliche Geschöpf nicht vergessen, dem er beinahe zum Opfer gefallen wäre.

Etwas von der bemitleidenswerten Kreatur war noch immer in ihm, tief am Grunde seiner Seele, fast vergessen, wie ein schlechter Nachgeschmack, den ein an sich gutes Essen hinterlassen hatte. Indem er die Lebenskraft der Kreatur aufgenommen und zu seiner eigenen gemacht hatte, war er auch ein winziges Stück selbst zu dem Wesen geworden.

Manchmal fragte er sich, wie viel von ihm selbst eigentlich noch in ihm war.

Wie alle seiner Art kannte er die Gefahr, die der Wechsel mit sich brachte. Der Angreifer war naturgemäß im Vorteil, wenn sein Opfer geschwächt und verletzt war, und mit jedem Leben, das ein Vampyr nahm, wuchs seine eigene Kraft, was zwangsläufig dazu führte, dass er stärker wurde, je länger er lebte, und unbezwingbarer, je mehr Leben er nahm. Und doch ... manchmal glaubte er die stummen Schreie all derer in sich zu hören, deren Leben er geraubt hatte, das verzweifelte Flehen der verlorenen Seelen, die Opfer der Bestie geworden waren, die irgendwo tief in ihm schlummerte, und der er seine Unsterblichkeit und seine Kraft verdankte, die er aber zugleich fürchtete wie nichts anderes auf der Welt. Vielleicht war er schon längst nicht mehr er selbst, sondern sah nur noch aus wie der Mann, der vor zehn Jahren sein Heimatdorf verlassen hatte.

Das Geräusch von Schritten drang in seine trübsinnigen Gedanken, ein trockener Ast zerbrach unter einem Fuß, und plötzlich stand Bruder Thobias wie aus dem Boden gewachsen vor ihm. Andrej erschrak, weil der junge Priester so plötzlich vor ihm erschienen war. Seine Sinne hätten ihn warnen müssen. Es war unmöglich, sich an ihn anzuschleichen!

Sein Erschrecken war offensichtlich auch Thobias nicht verborgen geblieben, denn der Geistliche legte den Kopf schräg und sah ihn stirnrunzelnd an. »Was habt Ihr, Andrej?«, fragte er. »Ihr seid leichenblass.« Er versuchte zu lachen. Es misslang. »Ihr seht aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen.«

Vielleicht habe ich das auch, dachte Andrej. Laut sagte er: »Nichts. Ich war ... in Gedanken, das ist alles. Was habt Ihr herausgefunden?«

Andrej rief sich zur Ordnung. Es gab eine ganz natürliche Erklärung. Er war noch nie im Leben so schwer verwundet worden wie jetzt. Genau genommen wusste er nichts darüber, wie es war, verletzt zu werden und sich nur allmählich wieder zu erholen. Er nahm an, dass nicht nur sein Körper Zeit brauchte, um seine gewohnte Leistungsfähigkeit zurückzuerlangen.

»Birger und seine Schwester sind verschwunden«, sagte Thobias. »Dazu weitere Männer aus dem Dorf. Niemand hat sie gesehen, seit jener Nacht, in der Ihr ...« Er zögerte unmerklich. »In der das Kloster überfallen wurde.«

»Was habt Ihr erwartet?«, fragte Andrej. »Dass er zurückkommt oder darauf wartet, dass wir ihn holen?« Er drehte sich halb herum und warf einen langen, nachdenklichen Blick ins Tal hinab. Trentklamm schien immer noch zu schlafen, obwohl es auch dort unten bereits hell zu werden begann. Andrej trat an Thobias vorbei einen halben Schritt aus dem Wald heraus, wobei er gegen das unangenehme Gefühl ankämpfen musste, schutzlos zu sein und vom Dorf aus gesehen werden zu können. Auch das hatte sich verändert: Er begann, ängstlich zu werden.

»Wo sind sie alle?«, fragte er. »Die Leute müssten doch längst auf den Beinen sein.«

»In der Kirche«, antwortete Thobias. »Ich sagte Euch doch, die Leute hier sind sehr gottesfürchtig.«

»Alle?«, fragte Andrej zweifelnd. »Oder ist heute Sonntag?«

»Ja«, antwortete Thobias - was wohl die Antwort auf beide Fragen darstellen sollte. Kurz darauf jedoch schüttelte er den Kopf und fuhr fort: »Aber das ist nicht der hauptsächliche Grund. Es steht eine Beerdigung an.«

»Wer ist gestorben?«, fragte Andrej.

»Jemand, den Ihr nicht kennt«, antwortete Thobias ausweichend. »Es spielt auch keine Rolle. Wichtiger ist, was ich darüber hinaus in Erfahrung gebracht habe.« Er sah Andrej herausfordernd an. Dann fuhr er fort: »Es sind wieder Tiere gerissen worden.«

Nun wurde Andrej hellhörig. Er sagte nichts, aber das Interesse in seinem Blick schien Thobias zufrieden zu stellen. »Wie vor zwei Jahren«, fuhr er in deutlich verändertem Tonfall fort. »Zwei Kühe von der östlichen Weide. Und einem anderen Bauern sind drei Schafe gerissen worden. Außerdem hat der Fuchs gleich einen ganzen Hühnerstall verwüstet.«

»Nur, dass es in dieser Gegend gar keine Füchse gibt«, vermutete Andrej.

»Zumindest ist es etliche Jahre her, dass ein Fuchs gesehen worden ist«, bestätigte Thobias. »Das alles gefällt mir nicht. Es wird Benedikt und den Inquisitor in ihrer Meinung bestärken, dass der Teufel hier sein Unwesen treibt. Das macht es nicht gerade leichter für uns. Die Leute sind misstrauisch und trauen jetzt erst recht keinem Fremden mehr.«

Andrej dachte eine Weile angestrengt nach. Thobias hatte Recht, und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun sollte.

»Bringt mich zu dieser Weide«, sagte er schließlich.

»Welcher Weide?« Thobias blinzelte.

»Der, auf der die Kühe gerissen wurden«, antwortete Andrej. »Vielleicht finden wir irgendwelche Spuren, die uns weiterhelfen.«

»Haltet Ihr das für eine gute Idee?«, fragte Thobias. »Die Leute sind ängstlich geworden. Sie werden die Herde bewachen.«