Выбрать главу

»Wir können auch hier stehen bleiben und darauf warten, dass sich die Ungeheuer freiwillig zeigen«, versetzte Andrej. »Wer weiß - vielleicht geben sie ja auf und kommen mit erhobenen Armen aus dem Wald, um sich uns auszuliefern.«

Thobias funkelte ihn an, aber dann drehte er sich einfach um und ging davon.

Andrej blickte ihm stirnrunzelnd nach. Seine bissige Antwort tat ihm schon wieder Leid, aber er wurde einfach nicht schlau aus dem jungen Geistlichen.

Thobias schien vertrauenswürdig. Aber eine leise, bohrende Stimme in ihm warnte ihn beharrlich, nicht zu vertrauensselig zu sein. Thobias hatte ihm zum Beispiel trotz seiner massiven Forderung bisher nicht erlaubt, mit Abu Dun zu sprechen oder ihn auch nur zu sehen. Und wenn er es recht bedachte, dann hatte er ihm auch von den Ergebnissen seiner Forschungen so gut wie nichts mitgeteilt - obwohl er sie doch angeblich seit zwei Jahren betrieb.

Andrej riss sich aus seinen Gedanken und drehte sich ebenfalls um, um Thobias nachzueilen, der schon auf dem Weg zur anderen Seite des schmalen bewaldeten Streifens war, wo sie ihre Pferde angebunden hatten.

Auf halbem Weg dorthin musste er einem dornigen Gebüsch ausweichen.

Er tat es, schon um sich nicht die neuen Kleider zu zerreißen, die Thobias ihm gegeben hatte, aber er streckte wie zufällig die Hand aus und streifte einen der Äste. Die fast fingernagellangen, messerscharfen Dornen ritzten seine Haut tief genug, dass einige Blutstropfen über seinen Handrücken liefen.

Andrej wischte sie weg und betrachtete nachdenklich die vier tiefen Kratzer. Sie hörten auf zu bluten und begannen zu heilen, aber viel langsamer, als sie es hätten tun sollen. Die Wunde schmerzte auch viel mehr, als sie sollte. Sie heilte - aber er verlangsamte seine Schritte, um nicht zu früh bei Thobias anzukommen und ihn etwas sehen zu lassen, was nicht für seine Augen bestimmt war. Er musste sehr langsam gehen.

Die Weide - auf dem Weg dorthin hatte er von Thobias gelernt, dass man sie in diesem Teil des Landes Alm nannte - die Alm also lag östlich des Dorfes und so weit oben in den Bergen, dass Andrej sich vergeblich fragte, wie die Trentklammer ihre Kühe eigentlich hier herauf bekamen. Der Pfad, den sie ritten, schien allenfalls für Bergziegen bequem zu sein; selbst sein Pferd kam ein paar Mal ins Stolpern, und auf dem letzten Stück saßen sie ab und gingen zu Fuß. Am Zügel führten sie die Tiere hinter sich her.

Die Bergwiese schmiegte sich an den letzten sanften Ausläufer des Hanges, hinter dem das Bergmassiv jäh und fast senkrecht in die Höhe zu steigen begann. Es war eine zyklopische Wand, die geradewegs bis in den Himmel zu reichen schien. Hier oben war es noch warm, doch es gab bereits keine Bäume mehr, sodass sie die Pferde im Schutz der letzten Felsen zurückgelassen hatten. Sie näherten sich der kleinen Herde mit äußerster Vorsicht, wobei sie jede noch so kärgliche Deckung ausnutzten.

Andrej fand ihr Gebaren merkwürdig. Schließlich pirschten sie sich nicht an eine feindliche Festung voller falkenäugiger Scharfschützen an, sondern an zwei Dutzend magerer Kühe, die wahrscheinlich nicht einmal dann von ihnen Notiz genommen hätten, wenn sie mit mehreren Fahnen und gellendem Kriegsgeschrei aus dem Wald gestürmt wären. Aber Thobias hatte darauf bestanden. Es gab eine kleine, roh aus Baumstämmen gezimmerte und fensterlose Hütte am anderen Ende der Alm, in der sich durchaus ein Wächter aufhalten könnte.

Andrej hoffte inständig, dass dem nicht so war. Nicht nur, weil er befürchtete entdeckt zu werden, sondern vor allem, weil die Gefahr bestand, dass der Mann dem Raubtier begegnete, das die Kühe gerissen hatte. Bei der bloßen Erinnerung an das unheimliche Geschöpf lief ihm noch ein eisiger Schauer über den Rücken. Er selbst, der - unter gewöhnlichen Umständen - viel stärker als ein kräftiger Mann war, hatte es mit Mühe und Not besiegt und diesen Sieg um ein Haar mit dem Leben bezahlt. Ein ahnungsloser Bauer, der auf einen Wolf oder allenfalls einen Bären vorbereitet war, hätte keine Möglichkeit gehabt, sich zu verteidigen.

Sie bewegten sich auf die Felswand zu und näherten sich der kleinen Herde, die träge im Sonnenlicht stand und an dem saftigen Gras zupfte. Allerdings schlugen sie einen Zickzackkurs ein, auf dem sie gut die fünffache Entfernung zurücklegten. Thobias sah immer wieder zur Hütte hin, und so unsinnig Andrej seine Vorsicht auch fand, so schien sie doch anzustecken.

Auch Andrej verspürte eine immer stärker werdende Unruhe, der er sich nur mit Mühe erwehren konnte.

»Hier irgendwo muss es gewesen sein.« Thobias machte eine Kopfbewegung in Richtung der Felswand. »Ich selber habe die Kadaver nicht gesehen, aber mein Vater hat mir die Stelle beschrieben. Dort drüben, bei der Felsspalte.«

Andrej blickte konzentriert in die angegebene Richtung. Er sah den Spalt auf Anhieb. Es war ein dreieckiger Einschnitt in der Felswand, der möglicherweise tiefer in eine Höhle hineinführte, vielleicht aber auch nur ein Schatten war.

Andrej verspürte ein eisiges Frösteln, als sie in den Schatten des Bergmassives traten, und diese Kälte wurde nicht nur vom fehlenden Sonnenlicht hervorgerufen. Irgendetwas Unheimliches ging von dieser Felswand aus. Etwas war hier.

Er blieb stehen und sog prüfend die Luft ein. Da war ein ganz leiser, aber unverkennbarer Geruch, eine Mischung aus Blut- und Verwesungsgestank, gerade noch an der Grenze des überhaupt Wahrnehmbaren.

»Was habt Ihr?« Thobias sah ihn fragend an. Offensichtlich hatte er nichts bemerkt, was Andrej mit einem leisen Gefühl der Erleichterung erfüllte.

Anscheinend erholten sich auch seine Sinne allmählich wieder.

»Nichts«, antwortete er, ohne den Blick von der schmalen Felsspalte zu nehmen. Es war nicht nur ein Schatten. Dahinter musste eine Höhle liegen.

Der Verwesungsgeruch kam eindeutig von dort. »Seid vorsichtig. Bleibt hinter mir.«

Andrej zog das Schwert aus dem Gürtel und legte die letzten zwanzig Schritte zwar geduckt, aber in gerade Linie zurück, ohne auf irgendeine Deckung zu achten. Dicht vor dem Höhleneingang blieb er stehen, um mit geschlossenen Augen zu lauschen.

Plötzlich stürzten die Sinneseindrücke wie eine Flut auf ihn ein. Jetzt, wo er einmal begriffen hatte, dass seine Vampyrsinne zurückgekehrt waren, schienen sie mit jedem Herzschlag schärfer zu werden. Er konnte Thobias Atemzüge hinter sich hören, das leise Knacken des Felsens, der sich vor ihnen auftürmte und sich auf seine unendlich langsame Weise ebenso bewegte wie ein lebendes Wesen, selbst das rülpsende Wiederkäuen der Kühe dreißig Schritte entfernt und das Geräusch des Windes, der sich hoch über ihnen an Felsvorsprüngen und Graten brach. Der Verwesungsgestank schien übermächtig zu werden. Aber es war nur der Geruch des Todes, der aus der Höhle drang. Dort war nichts Lebendes. Nichts, vor dem er Angst haben musste.

Er behielt das Schwert dennoch in der Hand, als er gebückt und schräg gehend durch den schmalen Spalt im Fels trat. Dahinter war es sehr dunkel.

Thobias hätte vermutlich gar nichts erkennen können. Andrejs nun wieder geschärftem Blick offenbarten sich Felsformationen in den unterschiedlichsten Grau-, Schwarz- und Silberschattierungen. Er entdeckte harte, ungewöhnlich scharfe Konturen. Das war eigenartig; eine selbst für ihn vollkommen neue Art des Sehens.

Dennoch war es sein Geruchssinn, der ihn zum Ziel führte, nicht seine Augen. Er konnte erkennen, dass die Höhle nicht besonders groß war. Hinter dem Eingang erweiterte sie sich zwar, verengte sich nach kaum zehn Schritten aber bereits wieder zu einem Spalt, der kaum breit genug war, um eine Hand hindurchzuschieben. Der Boden war mit Felstrümmern und Schutt übersät, und von der Decke hingen scharfkantige Zacken, unter denen er sich vorsichtig hindurchbücken musste; steinerne Zähne, die nur darauf warteten, nach ihm zu schnappen, »Bleibt draußen!«, rief er Thobias zu. »Hier drin ist es gefährlich.«

Thobias folgte ihm dennoch. Andrej schwieg dazu. Sollte sich dieser leichtsinnige Narr doch ruhig den Schädel einrennen, wenn ihm danach war.