Offenbar gehörte Thobias zu denjenigen, die am besten aus schmerzhafter Erfahrung lernten.
Andrej folgte dem süßlichen Verwesungsgeruch, der mit jedem Moment stärker zu werden schien. Mittlerweile war er tatsächlich intensiv genug, um eine leise Übelkeit in ihm auszulösen. Aber zugleich empfand er ihn auch als fast angenehm ...
Er schüttelte den Gedanken ab und stieg vorsichtig über einen metergroßen Felsbrocken hinweg. Hinter ihm knallte es dumpf, und Thobias stieß schmerzerfüllt die Luft aus. Andrej grinste in sich hinein.
Im nächsten Augenblick erlosch sein Grinsen und machte einem angeekelten Verziehen der Lippen Platz, als er sah, was hinter dem Felsbrocken auf dem Boden lag.
Es war ein Stück Fleisch, groß genug, um der Kadaver eines sehr großen Hundes sein zu können, aber schon so sehr in Verwesung übergegangen, dass seine ursprüngliche Form kaum noch zu erkennen war. Andrej ließ sich in respektvollem Abstand in die Hocke sinken und stocherte mit der Schwertspitze nach dem Fleischstück. Ein Schwarm Fliegen stob hoch, summte einen Moment ärgerlich um ihn herum und ließ sich dann wieder auf sein Festmahl niedersinken.
»Großer Gott!«, würgte Thobias neben ihm. »Was ist denn das?«
Andrej stocherte noch zweimal mit der Schwertspitze nach seinem grausigen Fund, ehe er antwortete: »Wenn mich nicht alles täuscht, der Hinterlauf eines Kalbes.«
»Eher einer ausgewachsenen Kuh«, sagte Thobias angeekelt. Er bekreuzigte sich. »Grundgütiger Jesus, seht Euch das an! Es sieht aus, als wäre er einfach herausgerissen worden! Welche Kreatur ist im Stande, so etwas zu tun?«
»Vielleicht ein Bär«, antwortete Andrej, zögernd und ohne rechte Überzeugung. »Ein sehr großer Bär.«
Thobias sah zuerst ihn zweifelnd an, dann drehte er den Kopf und blickte zum Eingang zurück. »Der Spalt ist viel zu schmal für einen Bären. Selbst für einen kleinen.«
»Und Wölfe schleppen ihre Beute nicht in Höhlen«, fügte Andrej hinzu.
Thobias nickte. Er sah erschrocken aus. »Was also war es dann?«
Vermutlich die gleiche Kreatur, der er in jener Nacht gegenübergestanden hatte, dachte Andrej. Wieder rannte eine Armee winziger eisiger Spinnenbeine seinen Rücken hinab. Er hatte mehr als Glück gehabt, diese Begegnung überlebt zu haben.
»Da sind Spuren«, sagte Thobias plötzlich. Andrej sah in die Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies, und tatsächlich entdeckte er Spuren: Eine Anzahl verwischter Abdrücke, die weder von einem menschlichen Fuß noch von der Pfote irgendeines Tieres herrühren konnten. Es sah aus, als wäre jemand in Blut getreten und dann in Richtung des Ausganges davongegangen. Andrej war sehr überrascht, dass Thobias diese Spur überhaupt gesehen hatte. Das Licht in der Höhle schien doch besser zu sein, als er angenommen hatte.
»Mindestens eine Woche alt«, sagte er. »Sie werden uns nichts mehr nutzen.«
»Aber die Kreatur war hier«, erwiderte Thobias. »Und sie wird wiederkommen - sobald sie hungrig ist. Wenn wir uns hier auf die Lauer legen ...«
»Dann brauchen wir nur zu warten, bis sie die Hühner und sämtliche Schafe aus Trentklamm aufgefressen hat, und schon wird sie wieder hier erscheinen«, führte Andrej den Satz zu Ende. Er stand auf. »So viel Zeit haben wir nicht, Thobias. Lasst uns hinausgehen. Ich bekomme keine Luft mehr.«
Auch Thobias erhob sich und zog den Kopf ein, um sich nicht zu stoßen, während sie nebeneinander zum Ausgang gingen.
Andrej verließ die Höhle als Erster. Er blinzelte, da er im ersten Moment fast blind in der ungewohnten Helligkeit war. Nach dem Verwesungsgestank in der Höhle erschien ihm die saubere Luft hier draußen so süß und wohltuend, dass er für eine Weile nichts anderes tat als dazustehen und tief ein- und auszuatmen. Dennoch registrierte er, dass sie nicht mehr allein waren. Während sie sich in der Höhle aufgehalten hatten, war ein Teil der Herde herangekommen. Als Andrej die Augen öffnete, blickte er direkt in das gutmütige Gesicht einer braunweiß gefleckten Kuh, die gemächlich wiederkäute und ihn anglotzte.
Hinter ihm polterte Thobias aus der Höhle, und die Kuh stieß ein erschrockenes Muhen aus und rannte davon. Thobias blickte ihr kopfschüttelnd nach und grinste plötzlich: »Vielleicht muss ich meine Einstellung übernatürlichen Dingen gegenüber noch einmal überdenken«, sagte er.
»Wieso?«
»Diese Kuh konnte anscheinend meine Gedanken lesen«, sagte Thobias.
Sein Grinsen wurde breiter. »Als ich sie gesehen habe, musste ich an ein Stück saftigen Braten denken.«
Andrej lachte, aber es klang ein wenig schal. Ihm war nicht ganz klar, wie Thobias jetzt an Essen denken konnte; nicht nach dem, was sie gerade in der Höhle gefunden hatten. Andrejs Magen rebellierte immer noch.
»Sie muss irgendwo hier sein«, fuhr Thobias nachdenklich fort. »Ich kann sie spüren, Andrej. Fühlt Ihr es nicht auch?«
Statt direkt zu antworten, sah Andrej sich um. Zur Rechten setzte sich die Felswand fort, bis sie im Dunst der Entfernung verschwamm. Aber zur anderen Seite hin wurde der Berg karstiger. Die senkrecht emporstrebende Mauer verwandelte sich nach und nach in ein Gewirr von Felssplittern und Schluchten, in dem sich eine ganze Armee verstecken konnte. Oder auch zwei.
»Nein«, antwortete er mit einiger Verspätung auf Thobias' Frage. »Aber ich an seiner Stelle würde mich genau hier verstecken. Hundert Männer können ein Jahr nach ihm suchen, ohne ihn zu finden.« Er seufzte. »Wir brauchen Abu Dun.«
»Nein«, sagte Thobias.
»Ich meine es ernst, Thobias«, beharrte Andrej. Natürlich wusste er längst, wie die Antwort lauten musste, aber er versuchte es dennoch weiter. »Ihr überschätzt mich, Thobias. Ich bin nur ein Söldner, der gelernt hat, mit dem Schwert umzugehen. Abu Dun ist der beste Fährtenleser, dem ich jemals begegnet bin. Ich brauche ihn.«
»Kommt nicht in Frage«, beharrte Thobias, ruhig, aber auch sehr entschlossen. Er konnte nicht anders entscheiden, das war Andrej klar. Auch wenn er sich aus purer Verzweiflung entschlossen hatte, Andrej zu vertrauen, so war er doch nicht dumm. Abu Dun war sein einziges Pfand.
»Dann brauchen wir Hunde«, sagte er nachgebend. »Gibt es Suchhunde bei Euch?«
»Im Kloster?« Thobias schüttelte den Kopf. »Wir hatten zwei Hunde. Aber als Imret und ihr Onkel ins Kloster kamen, mussten wir sie abschaffen. Sie haben sich wie wild gebärdet und waren nicht mehr zu bändigen.«
»Und was ist mit Trentklamm?«, fragte Andrej.
»Dort gibt es Hunde«, räumte Thobias ein. »Aber ich weiß nicht, welchem Zweibeiner ich dort trauen kann.«
»Wie wäre es mit Eurem Vater?«, schlug Andrej vor.
Thobias sah wenig begeistert aus, aber nach einer Weile rang er sich trotzdem zu einem Nicken durch. »Ich werde ihn fragen«, sagte er. »Die Beerdigung müsste ohnehin vorbei sein, und so lange es hell ist, werden wir hier nichts finden. Also reiten wir zurück.«
Der Friedhof der kleinen Ortschaft befand sich außerhalb des Tales. Er lag am Ende einer schmalen, tief eingeschnittenen Schlucht, die nur von einer Seite aus zugänglich war, und wurde zusätzlich von einer gut mannshohen Mauer eingefasst, in der sich nur eine schmale, massiv vergitterte Tür befand. Er erinnerte eher an eine Festung als an einen Gottesacker. Oder an ein Gefängnis.
Thobias hatte Andrej angewiesen, in der kleinen Kapelle zu warten, während er nach Trentklamm zurückkehrte, um mit seinem Vater zu sprechen. Andrej hatte sich eine gute Weile in der winzigen, vollkommen leeren Kapelle aufgehalten, ehe er wieder hinausging und ziellos über den Friedhof schlenderte. Thobias hatte ihm zwar eingeschärft, die Kapelle nicht zu verlassen, aber er glaubte nicht, dass jemand zufällig hier vorbeikommen würde, und darüber hinaus schützte ihn auch die hohe Mauer vor neugierigen Blicken.
Diese Mauer erwies sich bei näherem Hinsehen als mehr als sonderbar.