Sie war fast zwei Meter hoch und aus massiven Felsbrocken erbaut, die kaum behauen, aber äußerst kunstvoll miteinander vermauert waren. Auf ihrer Oberkante befanden sich spitze eiserne Dornen, die nach innen geneigt waren, und auch der Riegel an der schweren Gittertür war außen angebracht.
Es gab eine Unzahl von Kreuzen. Nun war ein Friedhof naturgemäß ein Ort, an dem es Kreuze in Massen gab, aber hier standen sie nicht nur auf den Gräbern. Auch die Innenseite der Friedhofsmauer war mit Kreuzen übersät, die aus Holz oder Metall gefertigt waren, manche aber auch gemalt oder grob in den Stein geritzt; zum Teil mit großer Kunstfertigkeit, zum Teil in aller Hast. Das Gitter, das den Eingang verschloss, bestand bei genauerem Hinsehen aus einer Unzahl geschmiedeter Kruzifixe.
Es war ein durch und durch unheimlicher Ort. Und was für seine Begrenzungsmauer galt, das traf auf die Gräber in beinahe noch stärkerem Maße zu. Die meisten waren vollkommen schlicht, aber es gab auch etliche, die mit Kreuzen und anderen christlichen (und auch einigen ganz und gar nicht christlichen) Symbolen nur so gespickt waren. Auf einigen lagen tonnenschwere Steinplatten, als hätten die Menschen Angst, dass das, was sich darin befand, wieder aus seinem Grab herauskommen könnte.
Andrej fand ohne große Mühe das Grab, das an diesem Morgen frisch ausgehoben worden war; auch wenn es sich von jedem frischen Grab unterschied, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Statt eines flachen, mit frischen Blumen oder Grün bedeckten Hügels bestand es aus einer zwei mal einen Meter messenden massiven Granitplatte, in die weder ein Name noch ein Geburts- oder Sterbedatum eingraviert war, dafür aber ein Kruzifix mit gespaltenen Enden und ein lateinischer Bibelspruch. Nicht nur, dass ein solches Grab für die einfachen Menschen aus Trentklamm unglaublich aufwändig war, war es auch vollkommen unsinnig. Spätestens wenn sich das Grab zu senken begann, musste die Grabplatte zerbrechen, ganz egal, wie massiv sie auch war.
Es gab noch mehr Besonderheiten. Die vier Eckpunkte des Grabes wurden von vier gürtelhohen Kreuzen gebildet, und ungefähr dort, wo sich das Herz des Beerdigten befinden musste, stand eine mit Wasser gefüllte Schale, auf deren Boden etwas Silbernes schimmerte. Andrej tauchte zögernd die Finger hinein und roch an der Flüssigkeit. Wasser. Aber kein gewöhnliches Wasser, sondern Weihwasser.
Er beugte sich weiter vor und zog fragend die Augenbrauen zusammen, als er erkannte, worum es sich bei dem schimmernden Gegenstand handelte. Es war ein silbernes Medaillon in Form eines Drudenfußes.
Andrej streckte zögernd zum zweiten Mal die Hand aus, und eine Stimme hinter ihm sagte: »Das würde ich nicht tun, an Eurer Stelle.«
Erschrocken fuhr er hoch. Seine rechte Hand senkte sich auf den Schwertgriff, aber er zog die Waffe nicht, als er die Gestalt erkannte, die in Thobias' Begleitung den Friedhof betreten hatte.
»Vater Ludowig?«, murmelte er. Verwirrt blickte er von Thobias zu Vater Ludowig und wieder zurück. Ludowig funkelte ihn voller kaum unterdrücktem Zorn an, während Thobias sichtliche Mühe hatte, sein Grinsen nicht allzu deutlich werden zu lassen.
»Aber Ihr sagtet doch, Ihr kämt...«
»Mit meinem Vater, ganz recht«, feixte Thobias.
Andrej blickte abermals von einem zum anderen, und plötzlich fragte er sich, warum er nicht schon längst von selbst darauf gekommen war. Ludowigs Gesicht war schmal und eingefallen und von Falten bedeckt, und wo in Thobias' Augen ein niemals ganz erlöschendes Lächeln zu sein schien, waren Ludowigs Augen von einem unauslöschlich eingebrannten Misstrauen erfüllt - aber die Ähnlichkeit war unverkennbar.
»Vater Ludowig«, murmelte Andrej. »Nun ja.«
»Strengt Eure Fantasie nicht unnötig an, Heide«, ermahnte Ludowig ihn scharf. »Thobias kam zur Welt, lange bevor ich Gottes Ruf empfing und in den Orden eintrat.«
»Nichts anderes habe ich angenommen, Vater«, erwiderte Andrej. Ludowigs Augen begannen Feuer zu sprühen, und Thobias bedeutete ihm mit Blicken, den Bogen nicht zu überspannen. Als er sprach, wandte er sich direkt an Ludowig.
»Du hast es selbst gesehen, Vater. Er hat die Hand in Weihwasser getaucht, und dies hier ist heiliger Boden. Du selbst hast das Grab noch heute Morgen gesegnet - und wie ich annehme, auch die eine oder andere Hostie vergraben. Wie viele waren es? Ein Dutzend?«
»Was soll das für ein Beweis sein?«, fragte Vater Ludowig mürrisch.
»Nun, er könnte kaum all diese Dinge tun, wenn er vom Teufel besessen wäre, nicht wahr?«, erläuterte Thobias. In seiner Stimme war noch immer ein sanfter Spott wahrzunehmen, aber Andrej fühlte auch seine Anspannung.
»Der Teufel ist mächtig«, sagte Vater Ludowig. Er klang eher störrisch als überzeugt.
»Nicht einmal er selbst könnte diesen Ort betreten«, seufzte Thobias. »Du wolltest einen Beweis, dass wir ihm vertrauen können. Du hast einen Beweis. Seine Seele ist rein.«
»Er ist ein Heide«, beharrte Vater Ludowig. »Möglicherweise hat er gar keine Seele, die der Teufel ihm rauben kann.« Er klang jetzt einfach nur noch stur. Andrej wäre nicht überrascht gewesen, wenn er mit dem Fuß aufgestampft hätte. Ludowig wollte sich nicht überzeugen lassen.
»Was soll das?«, fragte Andrej an Thobias gewandt.
»Mein Vater ist der einzige Mensch in Trentklamm, dem ich wirklich vertraue«, antwortete Thobias, aber Andrej schüttelte sofort und übertrieben heftig den Kopf.
»Davon rede ich nicht«, sagte er. »Ich meine das hier. Dieses Grab. Dieser ganze Friedhof ... wenn man ihn so nennen will.«
»Sprecht nicht so respektlos von Gottes Haus!«, mahnte Vater Ludowig.
»Gottes Haus?« Andrej lächelte wieder, und seine Stimme war voller Spott. Er bückte sich, griff in die Schale und nahm den silbernen Drudenfuß heraus.
»Das hier sieht mir nicht nach einem wirklichen Symbol Gottes aus, Vater Ludowig.«
Ludowigs Augen wurden schmal. »Was ist das?«, keuchte er. »Woher kommt das? Habt Ihr es hierher gebracht, Heide?«
Er wollte nach dem Medaillon greifen, aber sein Sohn kam ihm zuvor und nahm Andrej den Drudenfuß aus der Hand. Rasch schloss er die Faust darum und schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich kaum, Vater«, sagte er. »Ich fürchte, es war eines deiner Schäfchen, das der Meinung war, man könne des Guten niemals zu viel tun. Und es schadet ja auch nicht, oder?«
»Ketzerei«, grollte Vater Ludowig. »Ich werde keine Ketzerei in meiner Gemeinde dulden! Ich kann mir schon denken, wer dafür verantwortlich ist!«
»Mit Verlaub, Vater Ludowig«, sagte Andrej. »Aber wenn wir nicht aufhören, unsere Zeit zu verschwenden, dann werdet Ihr in neun Tagen keine Gemeinde mehr haben. Hat Euch Euer Sohn nicht gesagt, warum wir hier sind?«
Vater Ludowig funkelte ihn nur an, aber Thobias nickte. »Ich fürchte, er hat Recht, Vater. Wir müssen jemandem vertrauen.«
»Ausgerechnet ihm? Einem Fremden, der noch dazu in Begleitung eines Muselmanen hier erschienen ist? Einem Mann, der dich um ein Haar getötet hätte? Alles hat erst wieder begonnen, nachdem sie gekommen sind.«
Thobias war klug genug, diesen Einwand nicht aufzugreifen. Er warf Andrej einen weiteren, beinahe flehenden Blick zu, es ihm gleichzutun, dann wandte er sich ganz zu Andrej um und sagte: »Hier hat damals alles angefangen.«
Es dauerte eine Weile, bis Andrej begriff, dass diese Worte die Antwort auf seine Frage darstellten.
»Hier?«
»Es ist ein verfluchter Ort«, sagte Vater Ludowig. »Ihr müsst Euch nur umsehen, Söldner! Spürt Ihr nicht den Atem des Teufels?«
»Vater!«, rief Thobias. Er wandte sich wieder an Andrej. »Dies war schon eine Begräbnisstätte, als dieses Land noch von barbarischen Völkern besiedelt war, die heidnischen Riten nachhingen und die Naturgeister anbeteten.« Er wies auf die Kapelle. »Diese Kapelle wurde auf den Grundmauern eines viel älteren Gebäudes errichtet.«
»Eines heidnischen Tempels«, giftete Vater Ludowig. »Es ist ein Schlag in Gottes Gesicht, sein Haus auf den Grundmauern eines heidnischen Tempels zu errichten! Das ist gotteslästerlich!«