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»Was hat hier begonnen?«, beharrte Andrej. Wie Thobias war mittlerweile auch er zu dem Schluss gekommen, dass es das Vernünftigste war, Ludowigs Worte einfach zu überhören. Er fragte sich, warum Thobias ihn überhaupt mitgebracht hatte.

»Es war vor drei Jahren«, antwortete Thobias. Er deutete ein Schulterzucken an. »Ungefähr. Ich selbst war nicht hier, und die Leute sprechen nicht gerne darüber.« Er sah seinen Vater auffordernd an, aber Ludowig verstummte nun gänzlich. Nach einem Augenblick zuckte Thobias mit den Schultern und fuhr fort: »Es war im Frühjahr. Fremde kamen ins Dorf. Gaukler, soweit ich gehört habe.«

»Gaukler?« Andrej wurde hellhörig.

Abermals hob Thobias die Schultern. »Fahrendes Volk. Spielleute, Zigeuner. Ich weiß es nicht genau.«

»Zigeuner!« Vater Ludowig spie das Wort regelrecht aus. »Gottloses Volk, das nachts nackt um das Feuer tanzt und ohne Scham vor den Augen aller herumhurt!«

»Nun ja, vielleicht nicht ganz nackt«, sagte Thobias besänftigend. »Ich habe nichts gegen das fahrende Volk, Andrej. Im Gegenteil. Die Menschen hier sind arm. Ihr Leben besteht zum größten Teil aus Arbeit und Mühsal, und nur zu oft aus Not. Sie heißen jede Abwechslung willkommen, und was ist schon dabei? Ich glaube nicht, dass Gott etwas gegen ein wenig Freude im Leben hat - sonst hätte er uns kaum die Fähigkeit zu lachen gegeben, oder?«

Die letzte Frage war an Ludowig gerichtet, was Thobias einen vernichtenden Blick seines Vaters einbrachte.

»In diesem Jahr aber«, fuhr Thobias fort, »brachten sie den Tod. Einer von ihnen war krank, vielleicht auch mehrere, und etliche Dorfbewohner haben sich wohl bei ihnen angesteckt.«

»Angesteckt?« Vater Ludowig zog eine Grimasse. »So kann man es auch nennen. Es war die gerechte Strafe für ihr Tun! Sie haben Ehebruch begangen. Herumgehurt haben sie! Was danach geschah, war ...«

»... keine große Tragödie«, fiel ihm Thobias ins Wort. »Nachdem die Zigeuner fortgezogen waren, kam das Fieber. Viele wurden krank, und an die zwanzig starben.« Er seufzte. »Das allein wäre schrecklich genug gewesen, doch nachdem die Toten begraben und die Kranken wieder genesen waren, begann das, was auch jetzt wieder geschieht. Tiere wurden gerissen, Menschen verschwanden ...« Er hob die Schultern, starrte einen Moment wortlos zu Boden und begann schließlich mit kleinen Schritten vor Andrej auf und ab zu gehen.

»Zwei der Gräber waren aufgebrochen, und die Leichen verschwunden«, fuhr er nach einer langen Pause fort. »Von innen aufgebrochen, Andrej. So, als wären die Toten wieder aufgewacht und hätten sich aus ihren Gräbern befreit.« Er blieb stehen, sah Andrej aus weit geöffneten Augen an und flüsterte: »Ich habe es gesehen, Andrej. Mit meinen eigenen Augen.«

»Ihr wollt mir erzählen, dass die Toten aufgewacht sind und sich aus ihren Särgen befreit haben?«, murmelte Andrej. Der Klang seiner eigenen Stimme erschreckte ihn - aber der Grund seines Schreckens war ein gänzlich anderer, als Thobias annehmen musste: Thobias' Geschichte ähnelte zu sehr der, die ihm Alessa erzählt hatte.

»Ich weiß, wie sich das in Euren Ohren anhören muss, Andrej«, sagte Thobias. »Aber ich schwöre bei meiner unsterblichen Seele, dass es genau so war. Ich habe es selbst gesehen.«

»Hexerei«, murmelte Vater Ludowig. »Das ist das Werk des Teufels! Was muss noch passieren, bis du das begreifst? Habe ich dich so schlecht gelehrt, das Offensichtliche zu sehen?«

»Du hast mich zu gut gelehrt, das Offensichtliche sehen«, antwortete Thobias in einem Ton, der Andrej klarmachte, wie oft die beiden ungleichen Männer dieses Gespräch schon geführt haben mussten. »ist zu leicht, alles auf den Teufel zu schieben, Vater. Ich glaube, dass es eine Krankheit ist.«

»Eine Krankheit?«, fragte Andrej.

Vater Ludowig lachte böse.

»Eine grausame und fürchterliche Krankheit, ja, aber doch nicht mehr als das!«, antwortete Thobias überzeugt. »Niemand käme auf die Idee, den Teufel für die Pest verantwortlich zu machen, oder für die Blattern.«

»Aber eine Krankheit, die die Menschen von den Toten wiederauferstehen lässt?«, fragte Andrej zweifelnd.

Thobias lachte bitter auf. »Ich könnte Euch eine Menge Erklärungen dafür nennen, Andrej«, sagte er. »Ich habe in Nürnberg Anatomie studiert, bevor ich erfuhr, was hier geschieht und zurückkam. Ihr wäret erstaunt, wie viele vermeintlich Tote in ihren Särgen aufwachen und qualvoll ersticken - wenn sie Glück haben. Die weniger Glücklichen leben noch Tage. Sie reißen sich die Augen aus, zerfetzen sich selbst die Gesichter oder beißen sich in ihrer Verzweiflung selbst die Adern durch, um endlich sterben zu können.«

»Davon habe ich gehört«, antwortete Andrej. »Aber noch nie, dass sie sich selbst aus ihren Gräbern befreien und danach als Ungeheuer umherlaufen.«

Thobias lächelte flüchtig. »Ich höre mich selbst reden, damals, vor drei Jahren«, fuhr er fort. »Ich sagte doch, ich habe Anatomie studiert. Glaubt Ihr nicht, ich hätte nicht mindestens ein Dutzend überzeugender Erklärungen gefunden?«

»Und wieso glaubt Ihr dann nicht selbst an sie?«, wollte Andrej wissen.

»Ich habe Euch von dem Ungeheuer erzählt, das mich beinahe getötet hat«, antwortete Thobias. Andrej nickte. »Eine Sache habe ich Euch bisher allerdings verschwiegen, Andrej. Aus gutem Grund. So grässlich entstellt das Ungeheuer auch war, habe ich es trotzdem erkannt. Es war ein Mann hier aus dem Dorf. Ein junger Mann, gerade so alt wie ich. Als Kinder haben wir zusammen gespielt.« Er deutete auf die Gräber ringsum. »Und vor drei Jahren hat mein Vater ihn auf diesem Friedhof beerdigt, nachdem er in seinen Armen gestorben war.«

Ein Zehntel der Frist, die den Menschen in Trentklamm noch zu leben blieb, war verstrichen, als sie ins Kloster zurückkehrten. Die Sonne sank bereits, aber noch herrschte ein helles Zwielicht, und Andrejs immer schärfer werdende Sinne ermöglichten es ihm, sich das Kloster und den kleinen Ort zum ersten Mal wirklich anzusehen.

Nicht, dass es der Mühe wert gewesen wäre. Der Ort bestand aus weniger als einem halben Dutzend wuchtiger Gebäude, die klein, aber allesamt aus Stein gebaut und mit Schiefer gedeckt waren. Materialien, die die Menschen vermutlich in unmittelbarer Nähe gefunden hatten. Holz als Baumaterial, so nahm er an, war hier oben viel zu schwer zu beschaffen und daher weit kostbarer als Stein. Nirgendwo war ein Zeichen von Leben zu erkennen.

Obwohl auf den Felsen ringsum ebenso wie auf vielen Dächern Schnee lag, stieg aus keinem einzigen Kamin Rauch auf. Er musste nicht fragen, um zu erkennen, dass das Dorf verlassen war.

Was für die Häuser galt, traf auf die Klosterfestung in noch viel stärkerem Maße zu: Es war ein wuchtiger, aus grobem Stein errichteter Bau ohne überflüssigen Zierrat, der einzig nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit errichtet worden war. Er bestand nur aus einem Turm mit einer acht Meter hohen Umfriedungsmauer. Der Krieger in Andrej erkannte sofort die Schwachpunkte dieser uralten Festungsanlage. Dennoch war sie allein durch ihre Lage fast unangreifbar, hoch oben über dem Pass und mit der unübersteigbaren Felswand im Rücken.

»Vor langer Zeit war das eine Raubritterburg.« Thobias hatte Andrejs forschende Blicke bemerkt und beantwortete seine unausgesprochene Frage, wobei sich kleine Dampfwölkchen vor seinem Gesicht bildeten. »Aber das ist sehr lange her. Heutzutage leben wir in zivilisierteren Zeiten. Es gibt schon lange keine Raubritter mehr.«

»Vielleicht, weil es auch nichts mehr gibt, was sich zu rauben lohnt«, murmelte Andrej. Die Kälte, die sich wie ein dünner eisiger Film auf sein Gesicht gelegt hatte und seine Züge lähmte, ließ sein Lächeln verunglücken.

»Da habt Ihr wohl Recht«, sagte Thobias. Er maß Andrej mit einem sonderbaren Blick, schwieg aber, bis sie das Tor erreicht hatten und aus den Sätteln stiegen. Zwei Wächter kamen ihnen entgegen und nahmen ihnen die Tiere ab, und obwohl sie sich im Hintergrund hielten, bemerkte Andrej sehr wohl die beiden anderen Soldaten, die im Schatten standen und jede seiner Bewegungen misstrauisch beobachteten.