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Es sollte jedoch anders kommen. Ob Thobias nun seine Absicht erraten oder tatsächlich verstanden hatte, was er zu Abu Dun gesagt hatte - nachdem Andrej in sein Zimmer zurückgebracht worden war, schloss ein grimmig dreinblickender Wächter den eisernen Ring wieder um sein Fußgelenk.

Kaum hatte Thobias ihn allein gelassen, überprüfte er sorgsam den Ring und die Kette. Beide waren äußerst massiv. Er würde sich nicht selbst befreien können und hätte damit auch keine Möglichkeit, sein Versprechen Abu Dun gegenüber einzulösen.

Weder bekam er Thobias an diesem Abend ein weiteres Mal zu Gesicht noch wurde ihm Essen gebracht. Als Andrej am nächsten Morgen mit knurrendem Magen erwachte, sah er sich einem ebenso schweigsamen wie ungewohnt übellaunigen Bruder Thobias gegenüber, der ihm eine Schale Suppe sowie ein Stück hartes Brot gebracht hatte. Andrej verschlang beides mit Heißhunger, aber er war keineswegs satt. Thobias missachtete seine fordernden Blicke jedoch und wies ihn nur mit knappen Worten an, sich anzukleiden und ihm zu folgen. Erst nachdem sie die Klosterfestung verlassen und sich schon ein gehöriges Stück entfernt hatten, besserte sich Thobias' Stimmung ein wenig.

»Ich habe mit meinem Vater ausgemacht, dass wir uns bei Sonnenaufgang auf der Alm treffen«, sagte er. »Bei der Höhle, in der wir den Kadaver gefunden haben. Er bringt zwei Hunde mit. Die Spur ist zwar schon älter, aber mit etwas Glück finden sie die Fährte trotzdem noch.« Er sah Andrej fragend an. Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: »Ich werde Euch nicht begleiten können. Es wäre nicht gut, wenn man uns zusammen sieht.«

»Ich verstehe«, antwortete Andrej spöttisch. »Ihr sorgt Euch um Euren guten Ruf.«

Thobias' Gesicht verdüsterte sich, aber er verzichtete auf eine Antwort und konzentrierte sich für eine ganze Weile darauf, sein Pferd behutsam über den abschüssigen und mit Geröll bedeckten Pfad zu leiten. Während Andrej ihm dabei zusah, fiel ihm auf, wie unruhig das Tier war. Sein Schweif peitschte, und seine Ohren bewegten sich unentwegt hin und her. Thobias musste immer wieder an den Zügeln ziehen, um es unter Kontrolle zu halten, und er ging dabei grob genug zu Werke, um dem Tier Schmerzen zuzufügen. Er war kein besonders geschickter Reiter.

»Ihr lasst mich tatsächlich allein in die Berge gehen? Habt Ihr denn keine Sorge, ich könnte nicht zurückkommen?«, wollte Andrej wissen.

»Habt Ihr bisher den Eindruck gewonnen, ich wäre in der Lage, Euch zu irgendetwas zu zwingen, was Ihr nicht freiwillig tätet?«, gab Thobias zurück.

Er verzog die Lippen und hob die Schultern. »Außerdem habe ich Befehl gegeben, Euren schwarzen Freund bei lebendigem Leib zu verbrennen, sollte ich nicht zurückkommen.«

»Mir ist dennoch nicht wohl dabei«, sagte Andrej. »Ich bin fremd hier. Ich könnte mich verirren.«

»Das glaube ich kaum«, antwortete Thobias. »Darüber hinaus ist mein Vater viel zu alt, um Euch in die Berge zu folgen. Und ich wüsste sonst niemanden aus Trentklamm, dem wir vertrauen könnten.«

»Das Medaillon«, sagte Andrej nach kurzem Überlegen. »Der Drudenfuß, den jemand in das Weihwasser gelegt hat. Euer Vater schien zu wissen, wer es war. Ihm können wir sicher vertrauen.«

»Nein«, rief Thobias entschieden. Nach einem kurzen Moment hob er die Schultern und fuhr einschränkend fort: »Ich werde darüber nachdenken.«

Wieder machte er eine längere Pause, dann ergänzte er: »Aber es wäre gefährlich.«

»Das ist unser ganzes Unternehmen, oder?«

Thobias zog die Brauen zusammen und schwieg.

Kurz nach Sonnenaufgang trafen sie Vater Ludowig bei der Höhle. Er war nicht allein gekommen, sondern in Begleitung eines dunkelhaarigen, kräftigen Burschen, den Andrej in Trentklamm gesehen hatte, und zweier struppiger Hunde, bei deren Anblick Andrej erstaunt die Lippen verzog. Der eine war ein ausgemergelter Schäferhund, dessen linkes Ohr abgerissen und dessen Nase von Narben zerfurcht war, der andere von vollkommen undefinierbarer Rasse und Farbe und klapperdürr. Andrej machte eine abfällige Bemerkung, aber Thobias schüttelte heftig den Kopf.

»Lasst Euch nicht vom ersten Eindruck täuschen, Andrej. Die beiden sind ausgezeichnete Spürhunde.« Thobias deutete auf den Dunkelhaarigen, der Andrej mit einer Mischung aus Furcht und Misstrauen - aber auch mit unverhohlener Neugier - musterte. »Günther hat sie eigenhändig abgerichtet. Er ist ein sehr guter Spurenleser.«

»Ist er ...?«, begann Andrej, aber Thobias ließ ihn nicht zu Ende sprechen, sondern unterbrach ihn kopfschüttelnd.

»Nein. Aber er wird tun, was wir von ihm erwarten. Das ist doch so, Günther, nicht wahr?«

Der Angesprochene nickte; widerwillig, wie Andrej schien, und ohne den Blick auch nur für einen Herzschlag von seinem Gesicht zu wenden.

Mittlerweile überwog allerdings die Neugier in seinen Augen.

»Weiß er...?«

»Er weiß, was er wissen muss.« Diesmal war es Ludowig, der Andrej ins Wort fiel. »Vor allem über Euch.«

Andrej war klug genug, nicht darauf einzugehen. Stattdessen wandte er sich mit ernstem Gesicht an Günther, hielt seinem Blick eine kleine Weile stand und drehte sich, nach einem begrüßenden Nicken, direkt zu den Hunden um.

Langsam ließ er sich in die Hocke sinken und streckte die rechte Hand aus. Der Schäferhund heulte schrill auf und rannte ein paar Schritte davon, während der Mischung die Zähne bleckte und ein tiefes, drohendes Knurren hören ließ. Andrej zog die Hand nicht zurück, hütete sich aber, den Arm noch weiter auszustrecken. Er spürte die Mischung aus Angst und Angriffslust, die die Tiere verströmten, und war zu gleichen Teilen erstaunt wie überrascht. Gewöhnlich schloss er sehr schnell Freundschaft mit Tieren, gerade mit Hunden. Im gleichen Maße, in dem er sich von den Menschen abgewandt hatte, hatte er gelernt, die Sprache der Tiere zu verstehen.

»Macht Euch nichts daraus, Andrej«, sagte Thobias hinter ihm. »Die Hunde sind nicht an Fremde gewöhnt. Günther wird sie führen.«

Andrej sah über die Schulter zu Thobias zurück. Der junge Geistliche war in einiger Entfernung stehen geblieben. Er lächelte, aber seine Haltung drückte Anspannung und Furcht aus. Kühe und Pferde waren ganz offensichtlich nicht die einzigen Tiere, mit denen er nicht besonders gut auskam. Andrej zuckte mit den Schultern, stand auf und begegnete Günthers Blick, als er sich herumdrehte. Der Blick drückte Verwirrung aus.

»Es wird Zeit«, sagte Thobias nun. »Ich muss gehen. Günther wird Euch heute Abend bis zum Pass zurückbringen. Ich will, dass Ihr bis Sonnenuntergang zurück im Kloster seid.«

Er sparte es sich hinzuzufügen: Oder Euer Freund wird dafür büßen, aber es war auch nicht nötig, das zu sagen.

Andrej war verwirrt. Bisher hatte der Geistliche alles in seiner Macht Stehende getan, um Andrejs Vertrauen, wenn nicht gar seine Freundschaft zu erringen, und plötzlich benahm er sich wie sein Feind. Warum?

»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren«, sagte er kühl. »Günther, in der Höhle sind Fußspuren. Sie sind mehrere Tage alt. Glaubt Ihr, dass Eure Hunde die Fährte dennoch aufnehmen können?«

Ohne seine Frage zu beantworten, drehte sich der Hundeführer herum und verschwand zusammen mit seinen beiden Tieren in der Dunkelheit jenseits des Spaltes. Andrej wollte ihm noch eine Warnung vor den Felszacken zurufen, die von der Decke hingen, aber in diesem Moment hörte er bereits einen dumpfen Knall, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.

Thobias entfernte sich ohne ein weiteres Wort des Abschieds und ohne einen besorgten Blick zur Almhütte zu werfen. Auch Ludowig beließ es bei einem abschließenden Blick voller Groll, bevor er seinem Sohn folgte.

Andrej schüttelte den Kopf, aber er machte sich nicht die Mühe, sich weitere Gedanken über das sonderbare Verhalten der beiden zu machen. Ein junger Gelehrter und ein verbitterter alter Landpfarrer ... er konnte kaum von ihnen verlangen, dass sie angesichts des drohenden Unterganges so ruhig blieben wie er.