Günther kam zurück, begleitet von seinen beiden Hunden, die schwanzwedelnd um seine Beine strichen. Auf seiner Stirn prangte ein roter Fleck, der binnen kürzester Zeit zu einer prachtvollen Beule anschwellen würde.
»Was ich Euch noch sagen wollte«, grinste Andrej, »seid vorsichtig in der Höhle. Die Decke ist sehr niedrig.«
Günther warf ihm einen zornigen Blick zu, aber als er das Glitzern in Andrejs Augen bemerkte, konnte auch er ein Grinsen nicht mehr ganz unterdrücken. Er schwieg.
»Haben die Hunde die Fährte aufgenommen?«, fragte Andrej.
»Ich hoffe es«, antwortete Günther. »Sie ist ziemlich alt. Aber wenn es noch eine Spur zu verfolgen gibt, dann werden sie sie finden.«
Andrej war nicht sicher, ob es das war, was sie sich wünschen sollten. So dunkel, wie es hinter dem Felsspalt war, hatte Günther vermutlich nicht gesehen, welch grausiges Geheimnis der Berg barg. Andrej fragte sich, was sie tun sollten, wenn sie die Kreatur wirklich finden würden. Oder gar mehrere seiner Art. Zwar hatte Thobias ihm sein Schwert zurückgegeben, aber er wusste nicht, ob diese Waffe ausreichen würde, um sich gegen ein Geschöpf zu verteidigen, das stark genug war, einer ausgewachsenen Kuh ein Bein auszureißen.
Als hätten sie die Worte ihres Herrn gehört, senkten die beiden Hunde die Köpfe und begannen schnüffelnd in größer werdenden Kreisen und Linien zu laufen, ein nur scheinbar willkürlicher Kurs, der sie nach und nach immer deutlicher in östliche Richtung führte. In die Richtung, in der die Felswand allmählich in ein Gewirr von Schluchten und bizarren Spalten überging.
»Sie haben die Spur«, rief Günther. »Folgt mir.«
Geführt von den beiden Hunden bewegten sie sich nach Osten. Sie kamen nicht besonders schnell vorwärts. Die Hunde hielten immer wieder an und liefen witternd im Kreis, bis sie die verloren gegangene Fährte wiedergefunden hatten. Weiterhin achtete Andrej darauf, einen ausreichenden Abstand zu den Tieren zu bewahren - und damit auch zu ihrem Herrn. Andrej bedauerte diesen Umstand. Er hätte gern die Gelegenheit genutzt, mit Günther ins Gespräch zu kommen, um etwas mehr über Trentklamm und die Menschen dort zu erfahren. Aber er spürte, dass es besser war, wenn Günther auf ihn zukommen würde.
Nach und nach wurden die Hunde sicherer. Sie verloren jetzt nur noch selten die Spur, und bald eilten sie so schnell und zielstrebig voraus, dass Günther sie ein paar Mal zurückpfeifen musste, weil Andrej und er sonst nicht hätten Schritt halten können. Der Kurs, den sie einschlugen, wurde immer geradliniger. Als Andrej ihn in Gedanken verlängerte, führte er zu einer besonders steilwandigen, tief eingeschnittenen Schlucht, die nur wenige Schritte breit war, aber so monströs, als hätte jemand den gesamten Berg in zwei Teile gebrochen und nicht ganz sauber wieder zusammengesetzt.
Sie hatten sich dieser Schlucht auf zwei- oder dreihundert Schritte genähert, als Günther zum ersten Mal stehen blieb und das drückende Schweigen brach.
»Dort vorne ist ein Bach«, sagte er, ohne Andrej dabei anzublicken. »Falls Ihr durstig seid, dann solltet Ihr besser hier noch einmal trinken. Weiter oben gibt es kein Wasser mehr.«
Andrej nickte dankbar. Er hatte das frische Wasser längst gerochen.
Dennoch bat er: »Zeigt es mir.«
Günther führte ihn zu einem schmalen, aber sehr schnell fließenden Bach, dessen Wasser so kalt war, dass Andrej aufkeuchte, als er sich zwei Hände voll davon ins Gesicht spritzte. Er stillte seinen Durst und trank auch danach noch weiter. Sie waren möglicherweise noch lange unterwegs, ohne eine weitere Quelle zu finden. Anschließend ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen ins Gras sinken und genoss das Gefühl, das die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht hinterließen, während sie es trockneten. Auch Günther und die Tiere tranken.
Andrej beobachtete die Hunde aufmerksam, aber auch die Tiere behielten ihn ständig im Auge.
»Das sind wirklich ausgezeichnete Fährtensucher«, lobte er sie. »Die meisten Hunde hätten die Spur längst verloren.«
Seine Taktik, Günthers Schweigsamkeit zu überwinden, indem er ihn auf etwas ansprach, was ihm wirklich am Herzen lag, schien aufzugehen. »Es sind die besten«, bestätigte Günther. Dabei gelang es ihm nicht völlig, einen Unterton von Stolz aus seiner Stimme zu verbannen. »Ich weiß, dass sie nicht viel hermachen, aber sie finden jede Spur.« Er blickte zu der finsteren Schlucht hinüber, und ein Schatten legte sich auf sein Gesicht.
»Was ist dort hinten?«, fragte Andrej.
»Die Schattenklamm.« Günther hob die Schultern. »Sie führt ins Nichts.«
»Ins Nichts?«
»Höher hinauf in die Berge«, antwortete Günther widerwillig. »Dort gibt es nichts außer Steinen und Geröll. Wenn sich das Raubtier wirklich dort oben verkrochen hat, wird es schwer für uns werden, es zu finden.«
»Trotz der Hunde?«
»Der Weg wird zu schwierig«, antwortete Günther. »Ich bin nie tief hineingegangen, aber ich habe gehört, dass er vor einer Felswand endet.« Er hob abermals die Schultern. »Ich frage mich, welches Raubtier sich dort verstecken würde.«
»Vielleicht eines, das darauf hofft, dass wir uns genau diese Frage stellen und erst gar nicht nachsehen«, sagte Andrej. Er betrachtete Günther aufmerksam, während er dies sagte, aber auf dem Gesicht des Hundeführers zeigte sich keine Reaktion. Er erwiderte Andrejs Blick ruhig, dann stand er auf und stieß einen kurzen, so schrillen Pfiff aus, dass er in Andrejs Ohren schmerzte. Die beiden Hunde hörten auf, ausgelassen herumzutollen und nahmen die Fährte wieder auf.
Sie setzten ihren Weg fort, und die Hunde führten sie tatsächlich in direkter Linie zur Schattenklamm. Andrej verspürte bereits ein eisiges Frösteln, lange bevor sie den steil eingeschnittenen Spalt im Fels erreichten. Der Name »Schattenklamm« klang nach düsteren Mächten und uralten Flüchen. Doch je näher sie ihr kamen, desto klarer wurde ihm, dass die wirkliche Erklärung eine viel einfachere war: Die Schlucht war so schmal, dass sie mit Mühe und Not nebeneinander hineingehen konnten, und ihre Wände wichen nach oben nicht nennenswert auseinander. Vermutlich gab es am Grunde dieser Schlucht nur wenig Sonnenlicht. Im Augenblick ihres Eintretens war sie von dem erfüllt, was ihr ihren Namen gegeben hatte: Schatten.
Die Hunde liefen voraus, aber sie waren nicht mehr so ausgelassen wie bisher. Sie erfüllten ihre Aufgabe zuverlässig, aber nicht mit Begeisterung.
Andrejs Blick tastete misstrauisch über die Felswände und den schmalen, mit Geröll und Schutt übersäten Weg vor ihnen, und seine Hand lag griffbereit auf dem Schwert, ohne dass er selbst es auch nur wahrnahm. Vor ihnen rührte sich nichts, nur die Hunde und vielleicht ein paar Insekten, die sie aufgescheucht hatten. Vollkommen kahl lagen die Felsen vor ihnen. Die Herrschaft der Schatten war hier so vollkommen und das Sonnenlicht so spärlich, dass nicht einmal Flechten und Moose auf dem harten Stein Fuß gefasst hatten.
Dennoch war die Klamm nicht völlig ohne Leben. Etwas war hier. Andrej hätte die Hunde nicht gebraucht, um zu wissen, dass sie noch immer auf der richtigen Spur waren. Das Raubtier, das die Kuh gerissen hatte, war hier entlanggelaufen. Er konnte seine Nähe beinahe körperlich spüren.
Und nicht nur ihm schien es so zu ergehen. Auch Günther wurde zusehends unruhiger, obgleich er sich alle Mühe gab, sich seine Furcht nicht anmerken zu lassen.
Sie hatten die Hälfte der Klamm durchmessen, und ihr jenseitiges Ende kam bereits in Sicht. Die Schlucht weitete sich dort auf ein Mehrfaches ihrer anfänglichen Breite, und die Wände rechts und links waren nicht mehr so hoch wie am Eingang der Schlucht. Dafür stieg der Boden in einem steiler werdenden Winkel an und war mit Trümmern und Felsbrocken übersät. Aber es gab wieder Licht und damit Vegetation. Moos, Flechten und üppig wucherndes Gebüsch hangelten sich an den Felswänden entlang.