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Andrej war erst vor kurzer Zeit ins Kloster zurückgekehrt, und er hatte in dieser Zeit gute fünf oder sechs Becher von dem schweren, süßen Messwein getrunken, ohne dass der Alkohol auch nur eine Spur seiner beruhigenden Wirkung entfaltet hätte.

»Aber Ihr habt es gesehen«, sagte Thobias nach einer Weile. »Immerhin.«

»Ihr klingt, als wärt Ihr froh darüber.«

Thobias hob die Schultern. »In gewisser Weise ... Es tut mir Leid um den armen Günther, aber ich bin dennoch froh, dass ich nicht der Einzige bin, der das Geschöpf mit eigenen Augen gesehen hat.«

»Darauf hätte ich gern verzichtet«, antwortete Andrej. »Aber wir wissen jetzt, dass es noch lebt, und wir wissen auch wo.«

Thobias hörte auf, mit dem Becher herumzuspielen und sah ihn nachdenklich an. »Dass es noch lebt?«

»Wie?«, fragte Andrej. Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt.

»Ihr sagtet: Dass es noch lebt«, wiederholte Thobias.

Andrej hob die Schultern. »Welche Rolle spielt das schon? Es existiert, und wir müssen es vernichten.« Er atmete hörbar ein. »Was uns wieder zu einem Punkt zurückbringt, über den wir sprechen müssen: Abu Dun. Ich brauche ihn. In Freiheit, und gesund und stark.«

»Nein«, sagte Thobias ruhig.

»Ich fürchte, Ihr versteht mich nicht«, sagte Andrej. »Ich allein werde mit diesem Ungeheuer nicht fertig.«

»Ihr?« Thobias verzog spöttisch die Lippen, aber Andrej blieb ruhig.

»Noch heute Morgen hätte ich gedacht, dass es nichts auf der Welt gäbe, was mir Angst machen könnte«, sagte er. »Aber das stimmt nicht. Dieses Geschöpf macht mir Angst, was immer es auch ist. Ich allein bin nicht in der Lage, es für Euch zu töten.«

»Ich gebe Euch Männer mit«, sagte Thobias nach kurzem Überlegen. »Ihr könnt vier meiner Soldaten haben. Sie sind gut. Nicht so gut wie Ihr, aber sie verstehen ihr Handwerk, und sie werden Euch gehorchen, wenn ich es ihnen befehle.«

»Aber Abu Dun ...«

»... braucht Tage, um sich zu erholen«, fiel ihm Thobias ins Wort. Er stand auf und schüttelte den Kopf. »Nein. Selbst wenn ich Euch trauen würde, wir haben nicht die Zeit, um darauf zu warten, dass Euer Freund wieder zu Kräften kommt. In einigen Tagen ist Vater Benedikt mit den Vollstreckern der Inquisition hier. Wir können ihnen den Kadaver des Ungeheuers präsentieren, oder unsere Kadaver werden kurz darauf in der Sonne faulen.«

Er sah Andrej einen Moment lang abschätzend an, dann streckte er den Arm aus und schob ihm den Weinkrug hin.

»Hier. Betrinkt Euch meinetwegen, wenn es Euch hilft. Ich wollte, diese kleine Flucht wäre mir gestattet, aber Gottes Gebote sind in dieser Hinsicht eindeutig. Morgen bei Sonnenaufgang stehen die Soldaten zu Eurer Verfügung.«

Er machte eine Kopfbewegung auf den eisernen Ring im Fußboden. »Ist das noch notwendig?«

Andrej war im ersten Moment so überrascht, dass er gar nicht antwortete.

»Habe ich Euer Wort?«, fragte Thobias.

Andrej nickte. »Solange Ihr Abu Dun am Leben lasst.«

»Dann sind wir uns einig.« Thobias wandte sich zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, bevor er den Raum verließ.

»Ich muss noch einmal fort und mit meinem Vater sprechen«, sagte er. »Ich werde Euch etwas zu essen bringen lassen. Ich selbst werde wohl kaum vor Mitternacht zurück sein.«

»Ihr geht noch einmal nach Trentklamm?«, vermutete Andrej.

»Jemand muss den Menschen dort erklären, was mit Günther geschehen ist«, antwortete Thobias betrübt. »Er war ein tapferer Mann, und im Dorf sehr beliebt.«

Und ich habe ihn im Stich gelassen, dachte Andrej. Thobias sprach die Worte zwar nicht aus, aber das war auch nicht nötig. Sie wussten beide, dass es so gewesen war. Andrej versuchte sich einzureden, dass er den Hundeführer nicht hätte retten können. Das Ungeheuer hätte ihn ebenfalls getötet, ebenso schnell und mühelos wie es Günther erschlagen hatte. Aber dieses Wissen nutzte ihm nichts. Er fühlte sich trotzdem schuldig. Günther war tot, weil er darauf bestanden hatte, tiefer in die Schlucht vorzudringen.

»Hatte er Kinder?«

»Günther?« Thobias nickte. »Drei. Und eine Frau, die das vierte erwartet. Ich werde für sie beten.« Damit ging er.

Andrej sah die geschlossene Tür hinter ihm einen Moment lang an und wartete auf den Laut, den der Riegel machte, wenn er vorgelegt wurde. Er ertönte nicht. Nachdem Thobias ihm vor wenigen Augenblicken gesagt hatte, dass er ihm nicht traute, erbrachte er ihm jetzt den zweiten Vertrauensbeweis. Keine Kette, kein Riegel vor der Tür. Andrej konnte sich nur wundern.

Immerhin hatte er den Wein dagelassen.

Andrej schenkte sich einen weiteren Becher ein, stürzte ihn diesmal aber nicht in einem Zug hinunter, sondern nippte nur vorsichtig daran und trat dann ans Fenster.

Die Dämmerung war noch entfernt, aber es kam ihm so vor, als wären die Schatten bereits länger geworden. Über den Bergen im Westen schien etwas wie eine unsichtbare Düsternis zu liegen; das Versprechen auf kommendes Unheil, dem etwas Endgültiges anhaftete. Was immer geschehen würde, würde geschehen, und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Andrej trank einen Schluck Wein, aber er schmeckte plötzlich nicht mehr.

Seine Hand zitterte, als er den Becher auf dem Fenstersims abstellte.

Was war mit ihm geschehen?

Er kannte die Antwort.

Es war das Ungeheuer.

Der Werwolf.

Es spielte keine Rolle, ob und aus welchem Grunde sich Bruder Thobias weigerte, diesen Ausdruck zu verwenden, und welche natürliche Erklärung für das Vorhandensein dieses Wesens er sich zurechtgelegt hatte. Andrej hatte es gesehen. Er hatte ihm Auge in Auge gegenübergestanden. Dem Werwolf. Dem mythischen Fabelwesen aus tausend düsteren Geschichten, das schreckliche Gestalt angenommen hatte. Er hatte es gesehen, und er war niemals zuvor einem lebenden Wesen begegnet, das ihm solche Angst eingejagt hatte.

Es war ebenso einfach wie erschreckend: Er spürte, dass dieses Geschöpf ihn vernichten konnte. Es war stärker als er, bösartiger und rücksichtsloser. Andrej hatte eine dieser Kreaturen getötet, aber er hätte um ein Haar mit dem Leben dafür bezahlt, und er wusste, dass dieser Sieg nicht seiner Stärke geschuldet war. Er hatte den Werwolf überrascht, indem er ihn auf eine Art angegriffen hatte, die diesem Wesen fremd war. Ein zweites Mal würde ihm der Sieg nicht gelingen. Das Geschöpf, dem er in den Bergen begegnet war, wusste um seine besonderen Fähigkeiten.

Schon die Seele des ersten Werwolfes, die er in sich aufgenommen hatte, hatte etwas in ihm bewirkt, über dessen ganzes Ausmaß er sich noch immer nicht im Klaren war. Aber es hatte ihn geschwächt statt ihm Kraft zu geben.

Sollte er den Vampyr in sich ein zweites Mal entfesseln, um sich dem Kampf mit einem weiteren Werwolf zu stellen, würde er nicht mehr als er selbst aufwachen.

Wie um alles in der Welt sollte er das Ungeheuer besiegen?

Während Andrej weiter nach Westen blickte, hatte er das unheimliche Gefühl, die Nähe des Werwolfes noch immer zu spüren. Er war dort hinten, unerreichbar und sicher hinter der Schattenklamm und dem unpassierbaren Gelände, zu dem sie führte, und dennoch beschlich ihn das Gefühl, dass es zugleich hier war, in seiner unmittelbaren Nähe. In diesem Gebäude. Vielleicht sogar in diesem Raum.

Vielleicht sogar in ihm selbst.

Er schlief erst lange nach Einbruch der Dunkelheit ein, träumte schlecht und erwachte kurz nach Mitternacht von dem Eindruck einer schrecklichen Gefahr, die sich über ihm zusammenballte.

Andrej setzte sich mit einem Ruck auf. Seine Hand schloss sich um das Schwert, das griffbereit neben seinem Bett an der Wand lehnte, und der Blick seiner weit geöffneten Augen tastete unstet durch das Zimmer, das sich ihm in denselben unheimlichen Grau und Silberschattierungen darbot wie die Höhle, in der sie den Kadaver gefunden hatten.