Abu Dun machte ein enttäuschtes Gesicht, erhob sich aber gehorsam und wich einen Schritt zurück, und Andrej nahm seinen Platz ein. Auf dem Gesicht des Mannes machte sich vorsichtige Erleichterung breit, und er versuchte sich aufzurichten. Andrej versetzte ihm einen Fußtritt, und er sank japsend vor Schmerz wieder zurück.
»Bleib liegen«, sagte er drohend. »Du wirst mir jetzt ein paar Fragen beantworten, hast du mich verstanden? Wenn ich mit deinen Antworten zufrieden bin, dann lassen wir dich vielleicht am Leben.«
Der Mann wimmerte nur und versuchte davon zukriechen, und Andrej versetzte ihm einen weiteren Fußtritt. »Ob du mich verstanden hast?«
»Ja, Herr«, japste der Mann. »Bitte, ich ... sage Euch alles, was Ihr wissen wollt, aber bringt mich nicht um!«
»Wie ist dein Name?«, fragte Andrej. Als der Mann nicht sofort antwortete, holte er aus, als wollte er ihn noch einmal treten, und der Mann krümmte sich und hob furchtsam die Hände vor das Gesicht.
»Radic, Herr«, stammelte er. »Ich ... ich bin Radic.«
»Radic, gut. Du lebst hier?«
»Ja«, antwortete Radic hastig. Sein Blick irrte immer wieder zwischen Andrejs Gesicht und seinem Fuß hin und her. Er wimmerte. Der plötzliche Gestank bewies Andrej, dass er sich vor Angst besudelt hatte.
»Wer waren die Leute, die ihr da verbrannt habt?«, fragte Andrej. »Und warum habt ihr das getan?«
»Zigeuner, Herr«, sagte Radic hastig. »Es waren Zigeuner. Aber sie waren auch Hexen. Hexen und Teufelsanbeter. Alle.«
»Alle?«, fragte Andrej. »Wie viele waren es denn?«
»Fünf, Herr«, sagte Radic. »Fünf und das Mädchen. Fünf haben wir verbrannt, und das Mädchen wäre die Letzte gewesen. Sie war die Schlimmste von allen. Sie hat den bösen Blick, und sie muss mit dem Teufel gebuhlt haben, weil...«
Andrej versetzte ihm einen Fußtritt, diesmal so hart, dass er spüren konnte, wie mehrere Rippen brachen. Radic kreischte vor Schmerz, und Abu Dun warf Andrej einen warnenden Blick zu.
»Hör auf zu wimmern, du Memme«, sagte Andrej kalt. »Was soll das heißen, sie waren mit dem Teufel im Bunde? Wer hat euch das gesagt?«
»Vater Carol«, antwortete Radic keuchend. »Unser Pater. Der, den Ihr erschlagen habt.«
»Ich hätte gute Lust, dasselbe mit dir zu tun«, zischte Andrej. »Und mit dem Rest von ...«
»Wieso hat er gesagt, dass sie Hexen sind?«, mischte sich Abu Dun ein. Er bedachte Andrej mit einem tadelnden Blick, ehe er sich wieder an Radic wandte. »Welche Beweise hatte er dafür?«
»Jeder weiß, dass die Zigeuner schwarze Magie ausüben«, antwortete Radic.
Trotz des Zitterns in seiner Stimme klang es fast trotzig. »Seit drei Jahren werden unsere Ernten immer schlechter. Im letzten Winter mussten wir schon hungern. Und jedes Mal waren die Zigeuner vorher bei uns.«
»Oh, und du meinst nicht, dass könnte an den strengen Wintern oder den verregneten Sommern liegen?«, fragte Andrej böse. »Oder vielleicht daran, dass es kaum noch genug Männer im Dorf gibt, um die Arbeit auf den Feldern zu tun?«
Radic sah zu ihm hoch. Er verstand nicht einmal, wovon Andrej sprach.
»Und welche Beweise hatte euer Vater Carol für seine Anschuldigungen?«, fragte Abu Dun. »Ich meine, es gab doch sicherlich eine Gerichtsverhandlung?«
»Wir haben über sie Gericht gehalten«, bestätigte Radic. »Überall verbrennen sie Hexen. Die Kirche hat das Recht dazu, denn sie handelt im Namen Gottes.«
»Hoffentlich weiß euer Gott auch etwas davon«, sagte Abu Dun böse.
»Herr?«, fragte Radic verständnislos.
»Wie hast du das gemeint, sie wäre die Schlimmste von allen?«, fragte Andrej mit einer Geste auf das Mädchen.
»Sie hat sich verraten!«, antwortete Radic. »Gestern Abend, als sie ihre Kunststücke aufgeführt haben, da haben es alle gesehen! Sie war ungeschickt und hat sich mit dem Messer geschnitten. Eine wirklich schlimme Wunde. Aber heute Morgen war sie verschwunden! Das muss Teufelswerk sein!«
»Ich verstehe«, sagte Andrej finster. »Und deshalb habt ihr sie kurzerhand der Hexerei bezichtigt und auf den Scheiterhaufen geworfen. Ihr habt fünf Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt, nur weil ihr Zeuge von etwas geworden seid, das ihr nicht versteht? Ich frage mich, wer hier vom Teufel besessen ist.«
»Gib es auf«, sagte Abu Dun. »Ich glaube nicht, dass er versteht, was du meinst. Soll ich ihn töten?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Ich habe eine bessere Idee.«
Er ließ sich vor Radic in die Hocke sinken, hob das Schwert und fuhr sich mit der scharfen Klinge über den Handrücken. Radic ächzte, als er die klaffende Wunde sah, die der Stahl hinterlassen hatte. Und er ächzte noch einmal und lauter, als die Wunde schon nach einem Augenblick aufhörte zu bluten und sich wenige Sekunden später wie durch Zauberei wieder schloss.
»Wie du siehst, gibt es durchaus noch mehr Menschen mit denselben Kräften«, Andrej sah ihn scharf an. »Und ich kann dir versichern, dass das noch lange nicht alles ist.«
Radic starrte aus riesigen Augen auf Andrejs Hand. »Was ... was seid Ihr?«, stammelte er.
»Ich bin nicht mit dem Teufel im Bunde, wenn du das meinst«, antwortete Andrej. »Ich bin etwas Schlimmeres. Etwas, das du dir nicht einmal vorstellen kannst. Ich werde dich nicht töten. Noch nicht. Aber eines Tages werde ich kommen, und dann wirst du Rechenschaft über dein Leben ablegen müssen. Du bist noch jung. Du hast noch Zeit, es wieder gutzumachen. Aber denke daran, ich bin kleinlich, und ich sehe alles. Und wenn du über uns oder das, was hier geschehen ist, auch nur mit einem Menschen sprichst, dann werde ich wiederkommen und deine Seele fressen. Hast du das verstanden?«
Radic nickte, und Andrej lächelte ihm zu und versetzte ihm einen Fausthieb vor die Schläfe, der ihn augenblicklich das Bewusstsein verlieren ließ. Dann stand er auf.
»Beeindruckend.« Abu Dun klatschte spöttisch in die Hände. »Überaus beeindruckend. Aber auch ziemlich dumm. Was sollte das?«
»Mir war danach«, sagte Andrej finster. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ihm war danach gewesen, dem Kerl die Kehle aufzuschlitzen.
»Und du glaubst, du hättest ihn damit geläutert?«
»Wahrscheinlich nicht«, gestand Andrej. »Aber wenn sie das nächste Mal eine Hexe verbrennen, dann wird er nicht der Erste sein, der es gutheißt.«
»Wahrscheinlich wird er die Fackel halten«, grollte Abu Dun. Er schüttelte den Kopf. »Können wir jetzt gehen? Ich meine, bevor sie zurückkommen und uns einen Becher Wein und Kuchen zu unserem Plauderstündchen kredenzen.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Mädchens.
»Deine neue Freundin können wir ja mitnehmen.«
»Gleich«, murmelte Andrej. Er drehte sich langsam im Kreis. Ohne das brennende Kreuz auf dem Platz hätte das Dorf einen fast friedlichen Anblick geboten. Ein armes, aber sauberes Dorf, voller einfacher, aber arbeitsamer und ehrlicher Menschen, die ein gottesfürchtiges Leben führten und zur Kirche gingen, und die dann und wann zur Kurzweil ein paar Menschen verbrannten ...
»Gleich«, sagte er noch einmal. »Gibst du mir eine von diesen Fackeln?«
Sie waren nach Westen geritten, hatten aber nicht an der Herberge Halt gemacht, in der Andrej eigentlich hatte übernachten wollen, sondern waren ein gutes Stück davor von der befestigten Straße abgewichen und in die dichten Wälder eingedrungen, die das Bild in diesem Teil des Landes bestimmten.
Andrej war noch niemals dort gewesen und wusste sehr wenig über diese Gegend, und so überließ er es Abu Duns Instinkt, den Weg für sie zu finden; eine Entscheidung, die sich als durchaus richtig herausstellte. Eine ganze Weile waren sie durch die nahezu vollkommene Dunkelheit der Wälder geritten, und gerade als Andrej angefangen hatte sich zu fragen, ob er Abu Dun vielleicht doch überschätzt hatte, wurde es vor ihnen hell. Licht, das sich auf still daliegendem Wasser brach, schimmerte durch die Bäume. Wenige Augenblicke später standen sie am Ufer eines ruhigen Sees, der so groß war, dass sein jenseitiges Ufer mit der Nacht verschmolz.