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Er war allein. Selbst ohne sein auf so unheimliche Weise verstärktes Augenlicht hätte er gewusst, wenn irgendjemand im Zimmer gewesen wäre, denn auch alle seine anderen Sinne arbeiteten plötzlich mit nie gekannter Schärfe. Er konnte den Wein in dem Krug riechen, die Reste des längst kalt gewordenen Bratens, den ihm ein schweigsamer Soldat am Abend gebracht hatte, und er hörte ein ganz leises Tapsen, das er voller Erstaunen als das Huschen einer Maus identifizierte, die durch die Dunkelheit lief. Ein kleiner Appetithappen, aber nicht der Mühe wert, aufzustehen und danach zu jagen.

Andrej verscheuchte diesen erschreckenden Gedanken, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Angestrengt versuchte er sich darauf zu besinnen, weshalb er aufgewacht war.

Er war nicht mehr allein. Das Ungeheuer war hier. Nicht bei ihm im Zimmer, aber in der Burg.

Rasch bückte sich Andrej nach seinen Kleidern, schlüpfte hinein und trat dann ans Fenster. Der Innenhof der Klosterfestung lag dunkel und unbeleuchtet unter ihm. Trotz der Finsternis war sein Sehvermögen nicht eingeschränkter als bei Tage. Er erkannte, dass die Mauer ohne Wache war, und er konnte sogar die Stimmen der beiden Soldaten hören, die unten im Torgewölbe Wache hielten. Auch das Gefühl der Bedrohung kam von dort.

Andrej lauschte in sich hinein. Es war kein Gefühl. Er konnte den Werwolf wittern.

Wie am Tag zuvor wusste er, was geschehen würde, und genau wie am Tag zuvor war es zu spät, um es zu verhindern oder auch nur einen warnenden Schrei auszustoßen. Die Unterhaltung der beiden Männer brach plötzlich ab.

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, dann hörte Andrej einen überraschten Ausruf und ein Schwert, das aus der Scheide gerissen wurde.

Er wartete nicht darauf, was weiter geschehen würde, sondern rannte los.

Mit zwei gewaltigen Sätzen durchquerte er den Raum, riss die Tür auf und stürmte den unbeleuchteten Gang hinunter, bis er die Treppe erreichte.

Es war ein verzweifeltes Wettrennen gegen die Zeit, und er wusste von Anfang an, dass er es verlieren würde. Immer zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend, hetzte er die Treppe hinunter, durch die schmucklose Eingangshalle und hinaus auf den Hof.

Eine Übelkeit erregende Woge aus Blut- und Fäkaliengestank schlug ihm entgegen, als er das Torgewölbe erreichte. Andrej blieb entsetzt stehen.

Die beiden Soldaten waren tot, und obgleich sie einen entsetzlichen Anblick boten, begriff er doch, dass sie eines schnellen Todes gestorben waren. Der Werwolf hatte sich nicht lange mit ihnen aufgehalten, sondern sie blitzartig überwältigt und seinen Weg fortgesetzt. Aber wohin?

Andrej blickte mit wachsender Verzweiflung um sich. Er fand einen einzelnen blutigen Fußabdruck. Wie sich zeigte, war es jedoch nicht nötig, der Fährte des Ungeheuers zu folgen. Ein Schrei ertönte, gedämpft und sonderbar flach, als käme er aus dem Inneren der Erde, dann folgte ein Splittern wie von Holz oder Metall, das zerrissen wurde. Das Verlies!

Mit einem Schrei fuhr Andrej herum und raste auf das Treppenhaus zu. Der Schrei wiederholte sich, während er die ausgetretenen Steinstufen hinunterstürmte. Er fand den ersten Toten, noch bevor er den winzigen Vorraum erreichte. Der Mann lag verkrümmt auf den Steinstufen. Offenbar war er nicht einmal dazu gekommen, seine Waffe zu ziehen.

Andrej überwand das letzte halbe Dutzend Stufen mit einem einzigen Satz. Die nach rechts führende Gittertür war aus den Angeln gerissen. Er stürmte hindurch. Flackerndes rotes Licht hüllte ihn ein wie der Schein der Hölle selbst, und er roch Blut und Tod. Die Schreie waren verstummt. Andrej lief weiter und stürmte um die Gangbiegung.

Unmittelbar vor ihm lag ein zweiter Toter, und ein dritter Mann - noch am Leben, aber so schwer verletzt, dass er binnen kurzer Zeit sterben würde - hockte vor der Wand und starrte aus weit aufgerissenen Augen in seine Richtung, ohne ihn wirklich zu sehen. Das Ungeheuer stand geduckt am Ende des Ganges und zerfetzte mit gewaltigen Prankenhieben die Tür zu einer der winzigen Kerkerzellen. Hinter dem auseinander splitternden Holz kam eine schwarzhäutige Gestalt zum Vorschein, die aufrecht an die Wand gekettet war. Lärm und Schreie hatten Abu Dun aus seiner Lethargie gerissen. Er sah dem Monstrum aus blutunterlaufenen Augen entgegen, aber Andrej bezweifelte, dass er wirklich begriff, was er sah.

Ein letzter, fürchterlicher Prankenhieb schlug die Tür vollends aus dem Rahmen, und die Bestie warf ihren missgestalteten Schädel in den Nacken und stieß ein schauriges Geheul aus.

»Nein!«, schrie Andrej. »Nein! Lass ihn in Ruhe, du Ungeheuer!«

Die Kreatur fuhr herum und bleckte wütend die Zähne. Seine schrecklichen, ungleichen Klauen öffneten sich, mörderische Krallen reckten sich in Andrejs Richtung, und in den glühenden Dämonenaugen loderte ein wilder Triumph auf.

Andrej hatte Angst. Nackte Panik wischte jeden Ansatz vernünftigen Denkens beiseite. Er wusste, dass ihn ein Schicksal tausendfach schlimmer als der Tod erwartete, wenn er in den Griff dieser mörderischen Klauen geriet.

Und dennoch rannte er weiter. Etwas war stärker als seine Angst. Vielleicht war es der Anblick Abu Duns, der ihn weitertrieb. Andrej überwand die wenigen Schritte Entfernung schreiend vor Angst und Zorn und schwang die Damaszenerklinge mit beiden Armen. Aus dem lodernden Triumph in den Augen des Werwolfs wurde ungläubige Überraschung, dann Schrecken.

Keine dieser Empfindungen hinderten ihn jedoch daran, mit unvorstellbarer Schnelligkeit zu reagieren. Andrejs Hieb hätte ausgereicht, ihn auf der Stelle zu enthaupten. Aber der Werwolf schien sich plötzlich in einen Schatten zu verwandeln, der nicht mehr Substanz als flüchtiger Nebel hatte und dann einfach verschwand.

Der Hieb ging ins Leere. Die Schwertklinge bohrte sich knirschend zwei Finger tief in das steinharte Holz des Türrahmens und blieb stecken, und Andrej wurde vom Schwung seiner eigenen Bewegung nach vorne gerissen und prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass ihm schwarz vor Augen wurde.

Stöhnend ließ er das Schwert los, drehte sich herum und kämpfte mit aller Macht dagegen an, in die Knie zu sinken. Wirbelnde schwarze und rote Schatten tanzten vor seinen Augen. Einer dieser Schatten hatte Klauen und Zähne und lodernde Dämonenaugen.

Andrejs Sinne klärten sich rasch, aber nicht rasch genug. Der Schemen gerann vor seinen Augen zu einer verkrüppelten Gestalt, und Andrej hob schützend die Arme, um das Ungeheuer abzuwehren.

Als gäbe es seine Abwehr gar nicht, fegte der Werwolf seine Arme beiseite, und eine unvorstellbar starke Pranke schloss sich um Andrejs Hals, schnürte ihm die Luft ab und riss ihn gleichzeitig in die Höhe. Andrej bäumte sich auf, als er den Boden unter den Füßen verlor, und hämmerte verzweifelt mit den Fäusten auf den Arm der Bestie ein. Zugleich trat er nach ihr. Er traf, aber seine Hiebe und Tritte zeigten nicht die geringste Wirkung. Der Werwolf drückte ihn langsam weiter an der Wand nach oben, und Andrejs Bewegungen wurden bereits schwächer. Wieder begannen rote Blitze vor seinen Augen zu tanzen, aber diesmal war es die Atemnot, die seine Sinne verwirrte.

Irgendetwas in seinem Hals war zerbrochen, zerquetscht unter dem mörderischen Griff des Ungeheuers. Er würde sterben, aber er würde nicht ersticken, das begriff er mit entsetzlicher Klarheit. Das Ungeheuer hielt ihn mühelos mit nur einer Hand, die andere hatte es erhoben und zu einer tödlichen Kralle geformt, vier verkrüppelte Dolche, die sich in seine Augen und seinen Schädel bohren würden, um das Leben aus ihm herauszureißen. Er hatte keine Wahl. Andrej sammelte sein letztes bisschen Willenskraft, um den Vampyr in sich zu entfesseln und die Bestie auf einer anderen Ebene zu einem Kampf herauszufordern, den er ebenso wenig gewinnen konnte wie diesen ...

... und das Ungeheuer erstarrte.

Der tödliche Schlag erfolgte nicht. In den mörderischen Triumph, der noch immer in den Augen des Werwolfes lag, mischte sich etwas anderes.