Verwirrung, aber auch Neugier und Staunen. Drei Herzschläge lang starrte er Andrej mit schräg gehaltenem Kopf an - dann ließ die fürchterliche Pranke seine Kehle los.
Andrej stürzte zu Boden und schlug mit dem Gesicht auf den harten Stein.
Er war aus dem Griff der tödlichen Kralle befreit, aber noch immer konnte er nicht atmen. Sein Adamsapfel war zerquetscht. Nach Kupfer schmeckendes Blut rann seine Kehle hinab. Endlich umfing ihn gnädige Dunkelheit.
Er konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, bis die Verletzung geheilt war und das Leben wieder in seinen Körper zurückkehrte. Das Blut auf seinem Gesicht war noch nicht eingetrocknet, und sein Hals schmerzte so sehr, dass der erste Laut, der über seine geschwollenen Lippen kam, ein gequältes Stöhnen war.
Wieso lebte er noch?
Andrej blieb mit geschlossenen Augen liegen, dann hob er die Lider und stemmte sich gleichzeitig an der Wand in eine sitzende Position hoch.
Noch bevor er den Kopf hob und sich umsah, wusste er, dass das Ungeheuer fort war.
Andrej verharrte noch eine Weile, in der er voller Ungeduld darauf wartete, dass die Schmerzen verebbten und neue Kraft aus jenem unerschöpflichen geheimen Speicher in seinen Körper floss, über dessen genauen Ursprung er sich immer noch im Unklaren war.
Er wandte sich der Zelle Abu Duns zu.
Abu Dun stand noch immer in der gleichen qualvollen Haltung da wie vor zwei Tagen, und auch seine Wunden waren nicht behandelt worden. Es sah aus, als seien noch einige frische Prellungen und Schrammen hinzugekommen. Seine Augen waren trüb vom Fieber. Andrej las einen Ausdruck unerträglicher Pein darin, aber auch eine tiefe Erleichterung.
»Worauf wartest du, Hexenmeister?«, krächzte Abu Dun. »Hättest du vielleicht die Güte, mich loszumachen?«
»Nur die Ruhe, Pirat«, antwortete Andrej. »Vielleicht gefällst du mir ja ganz gut da, wo du bist.«
»Nenn mich nicht so«, antwortete Abu Dun, und Andrej erwiderte: »Wenn du aufhörst, mich Hexenmeister zu nennen.«
Er zog mit einiger Mühe das Schwert aus dem Türrahmen, steckte es ein und unterzog dann Abu Duns Fessel einer flüchtigen Musterung. Die Handschellen, die seine Arme über den Kopf zwangen, waren mit einem einfachen Keil gesichert, den er ohne Mühe herausziehen konnte. Abu Dun stieß ein unendlich erleichtertes Seufzen aus und sackte zusammen.
»Ich glaube, ich spare mir die Frage, ob du gehen kannst«, sagte Andrej besorgt.
»Warte einen Augenblick«, stöhnte Abu Dun.
Andrej verzichtete auf eine Entgegnung. Sie wussten beide, dass es wahrscheinlich Tage dauern würde, bis der nubische Riese wieder aus eigener Kraft laufen konnte.
»Wo bist du so lange gewesen?«, murmelte Abu Dun. Er versuchte sich hochzustemmen - und sank mit einem wimmernden Laut zurück.
»Ich habe Wölfe gejagt«, antwortete Andrej. Seine Gedanken überschlugen sich. Dass er Thobias sein Wort gegeben hatte, war im gleichen Moment hinfällig geworden, in dem das Ungeheuer hier aufgetaucht war. Sie mussten von hier verschwinden, bevor Thobias zurückkehrte.
»Warte hier auf mich«, sagte er. »Ich gehe nach oben und sehe nach, ob noch jemand lebt. Und ich besorge uns Pferde.«
Es lebte niemand mehr. Als Andrej kurze Zeit später zurückkehrte, hatte er vier weitere Tote gefunden. Thobias war nicht unter ihnen.
Oben im Hof warteten zwei hastig gesattelte Pferde auf sie. Andrej brauchte seine gesamte Kraft, um Abu Dun die Treppe hinaufzutragen und auf eines der Pferde zu heben. Dem Nubier widerstrebte diese unwürdige Behandlung.
Aber das änderte nichts daran, dass er so schwach war, dass er sich im Sattel festbinden ließ, bevor sie die Klosterfestung verließen.
»Das ist die verwegenste Idee, die du jemals gehabt hast, Hexenmeister - und ich habe aus deinem Mund schon eine Menge haarsträubenden Unsinn gehört!«
Wenn man seine Verfassung betrachtete, dachte Andrej, dann entwickelte Abu Duns Stimme eine gerade zu unglaubliche Lautstärke. Er saß an einen Baum gelehnt da und sah nicht nur aus, als könne er sich gerade noch mit letzter Kraft aufrecht halten - aber das hinderte ihn nicht, so laut loszubrüllen, dass man ihn noch unten in Trentklamm hätte hören müssen.
Andrej lächelte, aber sein Blick blieb ernst und voller tief empfundener Sorge, während er das zitternde Häufchen Elend betrachtete, das von dem nubischen Riesen übrig geblieben war. Sie waren so lange nach Westen geritten, bis sie einen schmalen, aber schnell fließenden Bach erreicht hatten, dem sie tiefer in den Wald hinein folgten, bis Andrej sicher war, einen möglichen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Nicht, dass er ernsthaft damit rechnete, verfolgt zu werden - zumindest nicht sofort. Selbst wenn Bruder Thobias noch am Leben und mittlerweile zurückgekehrt war, hatte er gar keine Möglichkeit, ihn jagen zu lassen. In der Klosterfestung war nichts Lebendiges mehr gewesen, als sie sie verlassen hatten.
Obwohl das Wasser eiskalt war, hatte Abu Dun darauf bestanden, sich ausgiebig zu reinigen. Jetzt saß er zusammengekauert und in zwei Satteldecken gehüllt und dennoch zitternd vor Kälte da, und Andrej hätte keinen Heller darauf verwettet, dass er sich jemals wieder aus dieser Stellung erheben würde.
»Du musst vollkommen übergeschnappt sein«, fuhr Abu Dun fort, als er keine Antwort bekam. »Was ist passiert? Haben sie dich gefoltert und dir das letzte bisschen Verstand auch noch aus dem Schädel geprügelt?«
»Im Gegenteil«, antwortete Andrej ruhig. Er empfand Schuld, dass sie Abu Dun gefoltert hatten und nicht ihn. »Ich gehe zurück nach Trentklamm, sobald wir einen Platz gefunden haben, an dem du in Sicherheit bist und dich erholen kannst.«
»Ich brauche keine Erholung«, behauptete Abu Dun. »Ein paar Stunden Schlaf und eine kräftige Mahlzeit, und ich bin wieder der Alte.«
Andrej fragte sich, ob Abu Dun diesen Unsinn wirklich glaubte. Es grenzte an ein Wunder, dass der Pirat überhaupt noch lebte. Er würde Zeit brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen.
»Ich muss es tun«, beharrte er. »Ich war der Lösung noch nie so nahe wie jetzt, Abu Dun. Ich spüre es.«
»Du warst dem Tod noch nie so nahe wie jetzt, du Narr«, murrte Abu Dun.
Er schüttelte den Kopf, stemmte die Hände gegen den Boden und versuchte sich zu erheben, sank aber sofort mit einem grunzenden Schmerzlaut wieder zurück. »Meine Beine«, keuchte er. »Sie fühlen sich an, als wäre jeder Knochen ein Dutzend Mal gebrochen.«
»Es wird dauern, bis du dich wieder bewegen kannst, ohne vor Schmerzen zu wimmern.« Andrej sah ihn an. »Wie fühlt es sich an, Ketten zu tragen?«
»Du wirst gleich wissen, wie es sich anfühlt, wenn man die Zähne ausgeschlagen bekommt!«, grollte Abu Dun.
Andrej grinste. Er trat zwei Schritte zurück und bot Abu Dun das erhobene Kinn dar. »Nur zu. Ich verspreche dir, nicht wegzulaufen. Und ich werde mich auch nicht wehren.«
»Du bist besessen, Hexenmeister, weißt du das?« Abu Dun wurde wieder ernst. »Du bist besessen von dem Gedanken, etwas herausfinden zu wollen, was du vielleicht nicht herausfinden solltest. Warum nimmst du nicht einfach hin, was du bist?«
»Weil ich es nicht kann«, antwortete Andrej. Er kam wieder näher, zögerte kurz und ließ sich unmittelbar neben dem Nubier mit untergeschlagenen Beinen nieder.
»Deine Neugier wird noch einmal dein Verderben sein«, sagte Abu Dun.
»Ich fürchte eher, dass Unwissenheit mein Verderben ist«, antwortete Andrej. »Erinnerst du dich an Alessa?«
»Thobias' Männer haben meine Beine verletzt, nicht meinen Schädel.«
»Dann erinnerst du dich auch daran, was sie erzählt hat«, fuhr Andrej fort.
»Über die Krankheit. Das Fieber, an dem viele gestorben sind. Sie hat als Einzige überlebt, und danach war sie so wie ich. Hier ist das Gleiche passiert, Abu Dun. Es kann kein Zufall sein.«
Er erzählte Abu Dun, was er von Thobias erfahren und vor allem mit eigenen Augen gesehen hatte. Abu Dun hörte zu, schweigend, aber mit größer werdendem Zweifel. Als Andrej zu Ende berichtet hatte, schüttelte er den Kopf und stieß hörbar die Luft zwischen den Zähnen aus.