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»Es war dein Vorschlag«, erinnerte Andrej ihn erneut.

»Ich erinnere mich, was ich gesagt habe«, antwortete Abu Dun. Er ließ das Hemd sinken. »Ich erinnere mich auch an einige andere Dinge, die ich gesagt habe.«

»Du hattest hohes Fieber«, sagte Andrej. »Die meiste Zeit hast du nur wüst vor dich hin gesprochen. Obwohl ich nicht sagen könnte, dass es ein großer Unterschied zu dem war, was du sonst redest.«

Der Nubier blieb ernst. »Du weißt, was ich meine«, sagte er. »Ich ... Ich wollte nicht...«

Andrej unterbrach ihn mit einer erschrockenen Geste. Er hatte etwas gehört; ein Geräusch, das so leise war, dass es Abu Dun mit Sicherheit entgangen war, das aber eindeutig nicht hierher gehörte und das näher kam.

»Was?«, fragte Abu Dun.

Andrej wiederholte seine mahnende Geste und stand mit einer fließenden Bewegung auf. »Nichts«, flüsterte er. »Zieh die Sachen an. Ich sehe nach.«

Abu Dun wollte widersprechen, aber Andrej beachtete ihn gar nicht, sondern drehte sich rasch herum und ging zur Tür. Alles war ruhig, als er die Kapelle verließ. Über dem Friedhof lag noch immer das silbergraue Licht der Nacht, an das Andrej sich trotz allem noch nicht wirklich gewöhnt hatte, das ihm aber mit jedem Tag auf sonderbare Weise vertrauter wurde. Es war beinahe so, als verwandele er sich allmählich in ein Geschöpf der Dämmerung, das mehr in der Dunkelheit als im hellen Licht des Tages zu Hause war. Ohne auch nur einen Blick in den Himmel hinaufwerfen zu müssen, wusste er, dass die Morgendämmerung noch gute zwei Stunden entfernt war.

Dennoch war der Himmel im Osten nicht vollkommen schwarz. Das düsterrote flackernde Licht von Fackeln war über der Mauerkrone zu sehen, und er hörte die Geräusche nun deutlicher, die ihn alarmiert hatten. Schritte.

Stimmen. Das Rascheln von Stoff und das Knistern brennender Fackeln.

Menschen kamen. Viele Menschen.

Andrej huschte durch das geschmiedete Tor und wandte sich dem Eingang des Tales zu, aber er legte nicht einmal die Hälfte der Distanz zurück, ehe er wieder anhielt und sich in den Schatten eines Felsens kauerte.

Es war eine ganze Prozession, die sich dem Friedhof näherte; zwanzig, vielleicht dreißig oder mehr Gestalten, die Fackeln trugen und in drei Reihen marschierten. Andrej hörte Stimmen, aber er konnte die Worte nicht verstehen, nur eine Art eintönigen Singsang, der klang wie ein Gebet.

Er hatte genug gesehen. Lautlos von Schatten zu Schatten huschend kehrte er zur Kapelle zurück und schloss die Tür hinter sich.

»Was ist los?« Abu Dun hatte sich mittlerweile angezogen und stand unsicher auf den Beinen. Er schwankte nicht, aber seine verkrampfte Haltung machte Andrej klar, welche Mühe ihm diese einfache Handlung abverlangte. Es sah nicht so aus, als würde er ein nennenswertes Stück gehen oder gar laufen können.

»Eine Beerdigung«, antwortete Andrej.

»Eine Beerdigung? Jetzt?«

Andrej hob die Schultern. »Die Leute hier haben eben andere Bräuche als bei uns.«

»Eine Beerdigung, Stunden vor Sonnenaufgang?« Abu Dun runzelte die Stirn. »Das sind wahrlich sonderbare Bräuche. Wir müssen von hier verschwinden.«

»Dazu ist es zu spät«, antwortete Andrej kopfschüttelnd. »Das Tal hat nur einen Ausgang. Wir würden ihnen direkt in die Arme laufen.« Er zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, spürte aber selbst, wie kläglich es misslang. »Aber mach dir keine Sorgen - niemand wird hier hereinkommen. In diesem Raum ist seit mindestens zehn Jahren niemand mehr gewesen, bevor wir kamen. Wenn wir kein verräterisches Geräusch machen, passiert uns nichts.«

»Und wenn sie doch hereinkommen?«

»Dann lasse ich mir Flügel wachsen und fliege davon«, sagte Andrej.

»Und du bist in Schwierigkeiten.«

»Sehr komisch«, murrte Abu Dun. Er machte einen vorsichtigen Schritt, blieb stehen und lauschte einen Moment in sich hinein, bevor er einen weiteren Schritt tat.

Andrej war mittlerweile zum Fenster gegangen. Er befeuchtete seinen Daumen mit der Zunge und rieb ein winziges Guckloch in den Schmutz auf der Scheibe, gerade groß genug, um hindurchsehen zu können, aber um auf gar keinen Fall von außen bemerkt zu werden.

Seine Mühe wurde belohnt. Von seinem Standpunkt aus konnte er sowohl das Tor als auch einen guten Teil des Friedhofgeländes überblicken. Es verging nicht mehr viel Zeit, bis der rote Feuerschein heller wurde und schließlich die ersten Mitglieder der Prozession durch das schmiedeeiserne Tor schritten.

Andrej war nicht sehr überrascht, Vater Ludowig an der Spitze der Prozession zu erblicken. Er trug keine Fackel, hatte aber beide Hände um ein hölzernes Kruzifix geschlossen, und seine Lippen bewegten sich unentwegt im Gebet.

Hinter ihm traten vier Männer durch das Tor, die einen schlichten, aus frisch gehobelten Brettern gezimmerten Sarg zwischen sich trugen. Er war vollkommen schmucklos und offensichtlich in großer Hast gebaut, aber Andrej fiel selbst über die große Entfernung auf, wie massiv die Bretter waren, aus denen er bestand; und wie viele Nägel man benutzt hatte, um den Deckel zu befestigen. Es war wie bei dem Grab, das sie vor ein paar Tagen besichtigt hatten: Jemand schien wirklich großen Wert darauf zu legen, dass der, der in diesem Sarg lag, auch darin liegen blieb.

Den Sargträgern folgten fünf oder sechs Männer in einfachen Kleidern.

Hinter ihnen gingen vier weitere Männer, die einen zweiten Sarg zwischen sich trugen.

»Zwei!«, flüsterte Abu Dun überrascht. Er stand neben Andrej und hatte sich ein eigenes Guckloch gemacht. »Und sieh nur, am Ende der Reihe. Das sind zwei weitere, nicht sehr alte Gräber ... nein, drei. Und ich dachte, das Leben in den Bergen wäre so wohltuend.«

Andrej brachte Abu Dun mit einer ärgerlichen Geste zum Verstummen.

Der Nubier hatte Recht: Die Grabreihe war deutlich länger geworden, seit er zusammen mit Thobias und Vater Ludowig hier gewesen war. Wieso war ihm das nicht aufgefallen? Er hatte die Kapelle im Laufe der zurückliegenden drei Tage häufig verlassen und wieder betreten.

Die Prozession näherte sich dem Ende der Grabreihe. Andrej gab den Versuch auf, die Männer zu zählen oder ihre Gesichter erkennen zu wollen, aber ihm fiel auf, dass es sich ausnahmslos um Männer handelte. Keine Frauen, keine Kinder. Die beiden Verstorbenen schienen keine besonders großen Familien gehabt zu haben.

Die Särge wurden abgesetzt. Die Männer mit ihren Fackeln bildeten einen dichten Halbkreis, in dessen Zentrum einige Dörfler begannen, mit mitgebrachten Spitzhacken und Schaufeln eine Grube auszuheben. Mit vereinten Kräften ging die Arbeit schnell von der Hand. Trotzdem dauerte die gesamte Zeremonie eine gute Stunde. Andrej war fremd in diesem Land und kannte weder seine Menschen noch deren Sitten und Gebräuche. Dennoch hatte er den Eindruck, keinem christlichen Begräbnis zuzusehen - obwohl viele Kreuze zu sehen waren und Vater Ludowig nahezu ununterbrochen betete.

Endlich wandten sich die Trauergäste - falls es überhaupt solche waren - einer nach dem anderen um und gingen; nicht mehr in einer geschlossenen Prozession, sondern in einzelnen kleinen Gruppen. Schließlich blieb nur noch Ludowig zurück. Bei ihm waren zwei Männer, die Fackeln trugen und es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht hatten, auf ihren Priester Acht zu geben.

»Allah sei Dank«, murmelte Abu Dun, als endlich auch Ludowig und seine beiden Begleiter den Friedhof verlassen hatten. »Ich dachte schon, er wollte gleich hier bleiben.«

»Wieso?«

»Er ist ziemlich alt«, sagte Abu Dun mit todernstem Gesicht. »Möglicherweise lohnt sich der weite Rückweg gar nicht mehr.«

»Du bist wieder ganz der Alte«, erwiderte Andrej.

»Zumindest deine Späße sind so schlecht wie eh und je.«

»Wieso Späße?« Abu Dun sah ihn einen Moment lang so überzeugend ernst an, dass Andrej tatsächlich Zweifel kamen, dann grinste er plötzlich breit und wollte sich zur Tür wenden, aber Andrej schüttelte den Kopf.