»Ich glaube, hier sollten wir rasten«, sagte Abu Dun.
»Eine gute Wahl«, pflichtete ihm Andrej bei. »Wir haben Glück, dass wir diesen Platz gefunden haben.«
»Das hat nichts mit Glück zu tun.« Abu Dun machte ein verächtliches Geräusch. »Ich bin Nubier, Hexenmeister. Wir können Wasser wittern.«
»Das dachte ich mir«, antwortete Andrej. »Deshalb habe ich auch darauf verzichtet, mich in eine Fledermaus zu verwandeln und davonzufliegen, um mir ein gemütliches Plätzchen zu suchen.«
Er glitt aus dem Sattel, drehte sich einmal im Kreis, um die Umgebung abzusuchen - als hätte er etwas sehen können! Der Wald war selbst für seine übermenschlich scharfen Augen undurchdringlich - und sah dann nach Osten, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Himmel war auch dort pechschwarz. Jetzt. Sie hatten den Feuerschein der brennenden Kirche noch lange gesehen, länger eigentlich, als die zunehmende Entfernung es hätte möglich machen dürfen. Andrej nahm an, dass die Flammen auf die benachbarten Gebäude übergegriffen, vielleicht sogar das ganze Dorf verschlungen hatten. Bei diesem Gedanken empfand er nicht das geringste Bedauern.
Er wandte sich wieder zu seinem Pferd um und streckte die Arme aus, um dem Mädchen beim Absteigen zu helfen. Es hatte die ganze Zeit wortlos und wie erstarrt hinter ihm gesessen, und es reagierte auch jetzt nicht. Sein Blick war noch immer in eine schreckliche Leere gerichtet, und Andrej fragte sich, ob es jemals wieder daraus zurückfinden würde.
»Warte.« Abu Dun trat mit zwei schnellen Schritten neben ihn, hob das Mädchen ohne die geringste Anstrengung vom Pferd und setzte es behutsam zu Boden.
»Kümmere dich um sie«, sagte er grob. »Ich bereite das Lager.«
Andrej nickte dankbar. Abu Dun war nicht glücklich darüber, dass sie das Mädchen mitgenommen hatten, obwohl es genau genommen sein Vorschlag gewesen war. Natürlich hätten sie das Mädchen unmöglich zurücklassen können; das wäre sein sicheres Todesurteil gewesen. Dennoch war sie schon jetzt eine Last für sie, und falls die Dörfler Hilfe holen würden und sie schnell verschwinden müssten - was wahrscheinlich war -, dann würde sie mehr als nur eine Last sein.
»Komm mit!«, sagte er. Die Zigeunerin reagierte immer noch nicht, und Andrej nahm sie bei der Hand und führte sie die wenigen Schritte zum Wasser hinunter. Sie folgte ihm willenlos. Wenigstens etwas.
Er setzte das Mädchen direkt am Wasser ab, ging zu seinem Pferd zurück und kramte ein halbwegs sauberes Tuch aus der Satteltasche. Nachdem er wieder zum See zurückgegangen war und es ins Wasser getaucht hatte, begann er vorsichtig, zuerst die Hände und dann das Gesicht der Zigeunerin vom gröbsten Schmutz zu reinigen. Darunter kam ein Mädchen zum Vorschein, das in wenigen Jahren durchaus zu einer Schönheit heranwachsen konnte.
Andrej spürte, wie sich ein schon fast vergessen geglaubtes Gefühl in ihm regte. Wie lange war es her, dass er keine Frau mehr gehabt hatte? Monate?
Zehn Jahre, dachte er bitter. Seit er Maria verloren hatte.
Natürlich hatte er seither Frauen gehabt. Dutzende, vermutlich Hunderte.
Aber das war nicht dasselbe. Andrej war ein körperlich junger Mann in den besten Jahren. Er suchte Frauen für eine Nacht oder die kurze Zeit, die sie das unstete Leben an einem Ort bleiben ließ. Es waren Frauen, die aus einer Laune heraus oder nach einem Becher Wein zuviel das Lager mit ihm teilten; oft genug auch für Geld.
Dieses Mädchen war etwas anderes. Sie war wie er. Ein Wesen von seiner Art. Das Blut, das in ihren Adern floss, war dasselbe wie seines.
Und sie war jung genug, um seine Tochter sein zu können, wenn nicht gar seine Enkelin.
Andrej verscheuchte seine Gedanken und konzentrierte sich wieder darauf, ihr Gesicht zu reinigen. Was er sah, gefiel ihm nicht. Die Prellungen und Brandblasen hatten bereits zu heilen begonnen, aber längst nicht in dem Ausmaß, in dem sie hätten heilen müssen. Außerdem fühlte er, dass sie Fieber hatte. Hohes Fieber.
Er tauchte das Tuch noch zweimal ins Wasser, bis er mit dem Ergebnis seiner Bemühungen so zufrieden war, wie er es unter den gegebenen Umständen sein konnte, und warf das Stück Stoff anschließend fort. Er hatte das Gefühl, dass es besudelt war; als hafte etwas von dem, was man diesem Kind angetan hatte, nun an dem Blut und Schmutz, die das Tuch aufgenommen hatte.
Langsam hob er die Hand, zögerte noch einmal und legte sie dann auf die Stirn des Mädchens. Sie war heiß, und er konnte spüren, wie schnell ihr Puls ging.
Andrej schloss die Augen. Wenn er ihr doch nur helfen könnte! Wie viele Leben hatte er genommen, auf genau diese Art, nur durch eine Berührung mit der Hand? Warum war es so leicht, etwas zu nehmen, und so unmöglich, auf die gleiche Weise zu geben?
Nach einer Weile zog er die Hand wieder zurück und hob die Lider. Der Blick des Mädchens war noch immer leer. Es hatte mit den Lippen zu zittern begonnen, aber in seinen Augen stand weiterhin das Entsetzen.
»Glaubst du, dass sie sich jemals wieder erholt?«
Andrej schrak leicht zusammen und sah über die Schulter hoch. Er hatte nicht gehört, dass Abu Dun hinter ihn getreten war, aber das überraschte ihn nicht. Trotz seiner Größe und Massigkeit vermochte sich der ehemalige Pirat so lautlos zu bewegen wie eine Katze.
»Ich weiß es nicht«, sagte Andrej ehrlich. »Ich weiß nicht, was sie ihr angetan haben.«
»Ich dachte immer, außer einem Stich ins Herz oder Feuer kann euch nichts umbringen«, sagte Abu Dun. Er grinste, aber Andrej spürte auch, dass diese Worte bitter ernst gemeint waren.
»Das dachte ich bisher auch.« Andrej betrachtete besorgt das Gesicht der jungen Zigeunerin, und Abu Dun sagte: »Hätten ihre Wunden nicht längst heilen müssen?«
»Sie ist noch sehr jung«, antwortete Andrej ausweichend. »Vielleicht ist sie noch nicht lange ...«
»So wie du?« Abu Dun war immerhin rücksichtsvoll genug, das Wort Vampyr nicht zu benutzen. »Hast du vergessen, was Radic erzählt hat? Gestern Abend hat sie sich geschnitten, und die Wunde war am Morgen verheilt.«
»Vielleicht ist sie morgen wieder gesund«, antwortete Andrej. Allerdings fehlte seiner Stimme jegliche Überzeugungskraft.
»Ich kann kein Feuer machen«, sagte Abu Dun. »Aber wir haben noch etwas kaltes Fleisch. Bist du hungrig?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Aber vielleicht möchte sie etwas essen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Hast du Hunger?«
Wie erwartet gab es keine sichtbare Reaktion. Aber Andrej glaubte ein schwaches Flackern in ihrem Blick zu bemerken. Wie ein winziger, fast schon im Ersterben begriffener Funke in der erkaltenden Asche eines Feuers.
»Wahrscheinlich braucht sie einfach nur Ruhe«, antwortete Andrej.
»Schlaf ist manchmal die beste Medizin.«
»Wo du es sagst - ich könnte auch etwas von dieser Medizin gebrauchen«, sagte Abu Dun. »Aber vorher sollten wir uns unterhalten.«
Das hatte Andrej befürchtet. Er wollte nichts weniger, als dieses Gespräch führen, aber er kannte Abu Dun zur Genüge. Er würde ihm nicht entgehen, nur weil er das Gespräch hinauszögerte.
Indem er so tat, als müsse er sich davon überzeugen, dass mit der Zigeunerin auch wirklich alles in Ordnung war, gewann er noch einige Augenblicke. Dann stand er auf und folgte Abu Dun.
Sie entfernten sich ein paar Schritte - als ob es nötig gewesen wäre, außer Hörweite des Mädchens zu gelangen. Andrej war sehr sicher, dass sie nichts von dem sah oder hörte, was um sie herum geschah.
»Und?«, fragte er, als Abu Dun stehen blieb.
»Was - und? Diese Frage wollte ich dir gerade stellen«, sagte Abu Dun.
»Was denkst du, sollen wir jetzt tun? Dir ist klar, dass sie spätestens nach Tagesanbruch anfangen werden nach uns zu suchen, oder?«