»Hast du vergessen, wessen Idee es war, die Hexenverbrennung zu stören?«
»Ich hatte dabei nicht im Sinn, wie der Leibhaftige aufzutreten und möglichst allen zu beweisen, dass ihr Aberglaube vielleicht nicht ganz so unbegründet ist. Und ich hatte auch nicht vor, den ganzen Ort niederzubrennen. Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich etwas Zurückhaltenderes vor.«
»Ich weiß«, sagte Andrej. »Gut, du hast Recht. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe die Beherrschung verloren. Sobald ich eine passende Rute gefunden habe, werde ich mich ein bisschen kasteien.«
»Darf ich das übernehmen?«, fragte Abu Dun grinsend. Dann wurde er sofort wieder ernst. »Du hast sie nie vergessen, nicht wahr ?«
»Maria?« Andrej schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich weiß nicht, ob ich dich verstehen kann«, sagte Abu Dun leise. »Ich habe niemals erfahren, was es heißt, jemanden zu lieben. Aber wenn ich mir dich ansehe, dann bin ich froh darüber.«
»Du weißt nicht, was du redest«, erwiderte Andrej.
»Ich weiß, dass du besessen bist«, sagte Abu Dun. »Wie lange ziehen wir jetzt schon durch die Welt und suchen nach ihr? Zehn Jahre? Wie oft hast du geglaubt, sie gefunden zu haben? Zehnmal? Hundertmal? Und wie oft hast du dich selbst gequält, wenn du zugeben musstest, dass sie es doch nicht war? Heute Abend hättest du uns beide fast umgebracht, nur weil du geglaubt hast, dieses Mädchen wäre Maria.«
»Niemand zwingt dich, bei mir zu bleiben«, antwortete Andrej spröde. »Du kannst gehen.«
»Wie einfach!« Abu Dun wurde böse. »Aber das wäre feige, und Abu Dun ist kein Feigling, der einen Freund im Stich lässt, wenn dieser ihn am meisten braucht.«
Andrej wollte auffahren, aber sein Zorn war nicht stark genug, weil er aus dem Verstand kam, nicht aus dem Gefühl. Statt den Piraten anzubrüllen, flüsterte er leise: »Du hast Recht, Abu Dun. Du weißt nicht, was es heißt, einen Menschen zu heben.«
Für endlose Augenblicke standen sie einfach schweigend da und starrten einander an, und schließlich drehte sich Abu Dun um und ging davon. Auch Andrej blieb nur noch einen Moment stehen, ehe er zum Waldrand zurück ging und sich gegen einen Baum lehnte. Er schloss die Augen. Für Abu Dun oder jeden anderen zufälligen Beobachter musste es so aussehen, als ob er schlafe, aber hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken immer schneller.
Abu Duns Worte hatten ihn mehr aufgewühlt, als er zugeben wollte, und seine Gedanken kehrten gegen seinen Willen zu jener schrecklichen Nacht vor zehn Jahren zurück. Er wehrte sich mit aller Macht gegen die Bilder, die in seinem Geist Gestalt annehmen wollten, aber es war ein Kampf ohne Aussicht auf Erfolg. Es hatte in den letzten zehn Jahren kaum einen Tag gegeben, an dem er sich nicht an die entsetzlichen Minuten erinnert hatte. Die Bilder hatten sich unauslöschlich und für alle Zeiten in sein Bewusstsein eingebrannt.
Sie hatten Draculs Burg verlassen und waren zum Waldrand geeilt, wo Maria auf sie warten wollte. Aber Maria war nicht da gewesen. Stundenlang war Andrej durch den Wald geirrt, hatte ihren Namen gerufen und sich an die immer verzweifelter werdende Hoffnung geklammert, dass sie vielleicht am falschen Ort gesucht hatten, dass Maria sich in der Dunkelheit vielleicht verirrt haben könnte ...
Was wirklich passiert war, hatten das erste Licht des neuen Tages und Abu Duns Talent als Fährtensucher offenbart. Sie hatten Spuren gefunden, die eine eindeutige Geschichte erzählten. Maria war am vereinbarten Treffpunkt gewesen, aber jemand war gekommen und hatte sie gewaltsam entführt.
Tagelang waren sie diesen Spuren gefolgt, bis sie sich schließlich verloren hatten.
Und das war für zehn Jahre das letzte Lebenszeichen von Maria gewesen.
Sie waren kreuz und quer durch das Land gezogen, und es war ganz genau so gewesen, wie Abu Dun gerade behauptet hatte: Er hatte ein Dutzend Mal geglaubt, sie gefunden zu haben, und die Erkenntnis, dass es nicht Maria war, war jedes Mal eine größere Enttäuschung gewesen als zuvor. Vielleicht hatte Abu Dun Recht, und sie war längst tot oder lebte jetzt in einem weit entfernten Land und hatte vergessen, dass es ihn gab, und ganz bestimmt hatte er Recht, wenn er sagte, dass er sich nur selbst quälte. Aber er konnte sie einfach nicht vergessen. Vielleicht gab es in seinem Leben nur Platz für diese eine Liebe, und möglicherweise ...
Neben ihm ertönte ein Stöhnen, gefolgt von einem halb erstickten Schluchzen. Andrej fuhr zusammen und sprang in die Höhe.
Die Zigeunerin war aus ihrer Starre erwacht. Sie war auf die Seite gesunken und hatte sich zusammengerollt wie ein schlafendes Baby, aber sie zitterte am ganzen Leib und schluchzte ununterbrochen, und als Andrej bei ihr ankam und die Hand nach ihr ausstreckte, schrie sie auf und schlug nach ihm.
Andrej fing ihren Schlag ab und hielt ihre Hand fest, aber sehr vorsichtig, um ihr nicht wehzutun. Sie schlug auch mit der anderen Hand nach ihm und traf ihn zweimal hart im Gesicht, bevor es ihm gelang, auch ihr zweites Handgelenk zu packen und festzuhalten. Im nächsten Moment rammte sie ihm das Knie mit solcher Wucht in den Unterleib, dass ihm die Luft wegblieb.
Andrej ächzte, drehte sich halb auf die Seite, um einem weiteren harten Tritt zu entgehen, und presste die Zigeunerin mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden. Er war ungleich stärker als sie, und dennoch kostete es ihn seine ganze Kraft, sie auch nur halbwegs in Zaum zu halten.
»Hör doch auf!«, schrie er. »So beruhige dich doch! Wir wollen dir nichts tun!«
Als Antwort riss sie ihre linke Hand los und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Andrej drehte hastig den Kopf zur Seite, sodass sie ihm nur die Wange zerschrammte. Wütend packte er ihr Handgelenk und hielt es diesmal mit deutlich größerer Kraft fest. Die Zigeunerin bäumte sich so überraschend und mit solcher Kraft auf, dass er beinahe umgeworfen worden wäre. Andrej fluchte, presste ihre Hände und Schultern auf den Boden und benutzte sein Knie, um ihre strampelnden Beine zu blockieren. Sie hob den Kopf und versuchte ihn zu beißen, und Andrej drehte hastig das Gesicht weg, bevor er ein Ohr einbüßte.
Hinter ihm lachte Abu Dun leise. »Braucht Ihr Hilfe, Sahib?«, fragte er spöttisch.
Andrej schluckte einen Fluch hinunter, bugsierte sich in eine Position, in der er das zappelnde Bündel unter sich zuverlässig festhalten konnte, ohne dabei ein Auge, ein Ohr oder irgendwelche anderen Körperteile zu verletzen, und presste ihre Hände mit noch größerer Kraft gegen den Boden.
Die Zigeunerin tobte noch einige Sekunden weiter, dann erschlaffte sie plötzlich, als hätte der jähe Ausbruch von Gewalt all ihre Energie aufgezehrt.
Im ersten Moment befürchtete Andrej schon, sie könne wieder in jenen Zustand dumpfen Brütens zurückfallen, in dem sie bisher gewesen war, aber ihr Blick blieb klar. Und auch die Angst war noch immer in ihren Augen.
»Hast du dich jetzt beruhigt?«, fragte er. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir sind deine Freunde.«
»Du ... du tust mir weh«, antwortete das Mädchen.
»Wenn du mir versprichst, nicht wieder auf mich loszugehen, dann lasse ich dich los«, antwortete Andrej. »Einverstanden?«
Die Zigeunerin zögerte für sein Empfinden eine Winzigkeit zu lange, bevor sie endlich nickte. Dann aber tat sie es, und Andrej ließ vorsichtig ihre Hände los und stand auf. Sofort richtete sie sich in eine sitzende Position auf, sah sich hastig nach allen Seiten um und rutschte dann weit genug zurück, um sich an einen Baum lehnen zu können. Sie zog angstvoll die Knie an den Körper und schlang die Arme um den Leib. Vielleicht glaubte sie ihm ja, dachte Andrej, aber das änderte nichts daran, dass sie noch immer halb von Sinnen vor Furcht war. Erneut ergriff ihn ein kalter Zorn auf die Menschen, die ihr das angetan hatten, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie etwas verkörperte, was sie nicht verstanden.
»Wie ist dein Name, Kind?«, fragte er.
»Alessa«, antwortete die Zigeunerin.