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»Alessa. Ein hübscher Name. Ich bin Andrej, und das da ist Abu Dun.« Er lächelte flüchtig, als Alessa in Abu Duns Richtung sah und bei seinem Anblick erneut zusammenzuckte. »Keine Angst. Er sieht nur bedrohlich aus. Dir wird er nichts tun. Wir sind deine Freunde.«

Alessas Blick wanderte unsicher von einem zum anderen. Sie hatte immer noch Angst. Vielleicht würde sie den Rest ihres Lebens in Angst verbringen.

Und ihr Anblick gefiel ihm auch in anderer Hinsicht nicht.

Sie sah nicht gut aus. Weit über die Spuren der Verletzungen hinaus, die man ihr zugefügt hatte, wirkte sie ... krank. Und das war eigentlich unmöglich.

Wesen wie sie wurden nicht krank. Niemals.

»Sag es ihr«, verlangte Abu Dun auf Arabisch, seiner Muttersprache, die Andrej in den letzten Jahren von ihm gelernt hatte. »Sag ihr, was passiert ist.«

»Hältst du das für klug?«, erwiderte Andrej in derselben Sprache.

»Hältst du es für klug, sie zu belügen und ihr in ein paar Tagen zu erzählen, dass ihre ganze Familie umgebracht worden ist?«, fragte Abu Dun.

»Erinnerst du dich, was passiert ist?«, fragte er, leise und wieder direkt an Alessa gewandt.

Im ersten Moment reagierte sie gar nicht, sondern starrte ihn nur aus Augen an, die noch dunkler geworden zu sein schienen. Dann nickte sie ganz sacht.

»Sie sind alle tot, nicht wahr? Sie haben sie alle umgebracht. Sag es. Du brauchst mich nicht zu schonen.«

»Du hast es doch nicht etwa mit ansehen müssen?«, fragte Andrej entsetzt.

Alessa verneinte. »Ich habe ihre Schreie gehört«, sagte sie. »Und irgendwie ... konnte ich fühlen, wie sie starben. Mich haben sie sich bis zum Schluss aufgehoben. Wenn Ihr nicht gekommen wärt, dann hätten sie mich auch getötet.« Ihre Stimme wurde bitter. »Ich weiß nicht, ob ich Euch danken soll. Vielleicht wäre ich besser tot.«

»Unsinn!«, sagte Andrej. »Du bist noch jung. Du hast dein Leben noch vor dir. Der Schmerz wird vergehen.«

Er kam näher, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen, als Alessa mit neu erwachender Furcht zu ihm hochsah. »Aber jetzt erzähl uns, was geschehen ist«, bat er.

Sie blickte stumm zu Abu Dun. Andrej konnte sie sogar verstehen. Auf jeden, der Abu Dun nicht kannte, machte der Nubier einen beeindruckenden und oft genug Furcht einflößenden Eindruck. An die zwei Meter groß, massig gebaut, mit seiner ebenholzfarbenen Haut und stets ganz in Schwarz gekleidet, kam er vielen vermutlich wie der Leibhaftige vor. Als Andrej ihn kennen gelernt hatte, da war diese Einschätzung nicht einmal vollkommen falsch gewesen. Aber das war lange her. Abu Dun war noch immer ein gefährlicher Mann - vor allem für seine Feinde - aber er hatte sich geändert: Er betrachtete nicht mehr jeden als Feind, der nicht sein Freund war.

»Warum haben sie euch das angetan?«, fragte nun auch er.

»Sie haben behauptet, wir wären Hexen«, antwortete Alessa zögernd.

»Zuerst... zuerst haben sie uns in ihrem Dorf willkommen geheißen und uns sogar gestattet, unsere Zelte am Stadtrand aufzuschlagen. Aber dann ... dann fingen sie an zu reden. Mit Fingern auf uns zu zeigen und zu tuscheln. Der Pfaffe war der Schlimmste. Du hast ihn erschlagen, nicht wahr?«

Andrej nickte. Er war überrascht, dass Alessa es überhaupt bemerkt hatte.

»Wir haben uns nichts dabei gedacht«, fuhr Alessa fort. »Die Leute sind immer so, überall wo wir hinkommen. Zuerst treiben sie Handel mit uns und lassen uns Kunststücke vorführen, dann fangen sie an zu reden, und am Ende jagen sie uns davon.« Sie lachte bitter. »Weißt du, woher das Wort kommt, mit dem sie uns bezeichnen? Zigeuner?«

Andrej schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf, und auch Abu Dun hob nur die Schultern.

»Aus dem Deutschen«, sagte Alessa. »Es kommt aus dem Deutschen, und es heißt so viel wie ziehende Gauner. Und mehr sind wir auch nicht für sie.«

Andrej sah ihr deutlich an, wie Bitterkeit und die Erinnerung an das Geschehene sie zu überwältigen drohten, und um sie abzulenken, fragte er hastig: »Kommt ihr von dort? Aus dem Deutschen?«

Alessa nickte. »Wir waren dort«, sagte sie. Sie schluckte einige Male, um die Tränen niederzukämpfen. »Den ganzen vergangenen Winter über. Auch da haben sie mit Fingern auf uns gezeigt, und uns davongejagt. Aber sie haben uns wenigstens nicht verbrannt.«

»Und warum hier?«, wollte Abu Dun wissen. »Was ist vorgefallen?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Alessa. »Gestern Abend haben sie uns plötzlich gefangen genommen und uns den Prozess gemacht.«

Andrej tauschte einen fragenden Blick mit Abu Dun. Warum log sie?

»Einfach so?«, fragte er. »Ohne besonderen Grund?«

»Der Pfaffe hat einige Dorfbewohner zum Schloss geschickt, und zwei Soldaten sind zu uns gekommen«, sagte Alessa - womit sie seine Frage ganz eindeutig nicht beantwortete. »Ihr habt die beiden gesehen.«

»Zum Schloss?« Abu Dun klang alarmiert. »Wo liegt dieses Schloss?«

»Nicht weit von hier.« Alessa machte eine Geste. »Auf der anderen Seite des Sees. Wäre es hell, könnten wir es von hier aus sehen.«

»Oh«, machte Andrej.

»Sind dort noch mehr Soldaten?«, fragte Abu Dun.

»Ich weiß nicht«, antwortete Alessa. »Wir waren nicht dort. Aber ich glaube schon.«

»Weiter«, sagte Andrej rasch. »Sie haben euch also den Prozess gemacht. Unter welcher Anklage?«

Alessa schwieg. Ihr Blick verriet, wie sehr es hinter ihrer Stirn arbeitete.

»Du traust uns immer noch nicht«, stellte er fest.

»Doch! Das ist es nicht, aber ...«

»Das kann ich verstehen«, fuhr Andrej mit einem Nicken fort. »Ich an deiner Stelle würde nicht anders reagieren, glaube ich. Aber ich habe etwas, um dich zu überzeugen.«

Er zog seinen Dolch. Die Augen der Zigeunerin weiteten sich erschrocken.

Statt ihr etwas anzutun, nahm Andrej das Messer jedoch in die linke Hand und zog die Klinge mit einer kraftvollen Bewegung über seinen Unterarm. Alessa keuchte und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Dann wurden ihre Augen noch größer, als sie sah, wie sich die Wunde binnen weniger Herzschläge wieder schloss. Für einen Moment war noch eine dünne, weiße Narbe zu sehen, doch auch diese verschwand.

Andrej steckte den Dolch ein und wischte sich das Blut vom Unterarm.

»Aber ... aber das ...«, stammelte Alessa. Sie starrte ihn an, dann bekreuzigte sie sich.

»Du siehst, ich kenne dein Geheimnis«, sagte Andrej. »Ich kenne es sehr gut. Ich bin genauso wie du.«

»Dann ... dann bin ich nicht die Einzige?«, murmelte Alessa. »Es gibt noch mehr Menschen wie mich?«

»Nicht sehr viele«, antwortete Andrej. Alessas Blick irrte zu Abu Dun, und Andrej schüttelte rasch den Kopf.

»Er gehört nicht dazu. Nur ich. Ich habe einige andere getroffen, aber nur wenige.« Und die meisten hatte er getötet. »Du bist nicht allein, Alessa.«

»Soll das heißen, du bist noch nie einem anderen Vam ...«, begann Abu Dun, stockte und verbesserte sich: »... einem anderen Menschen wie dir begegnet?«

Alessa sah unsicher zu ihm hoch. Andrej war sicher, dass ihr das halbe Wort, dass Abu Dun um ein Haar ausgesprochen hätte, keineswegs fremd war.

»Ich ... ich bin noch nicht ... noch nicht lange ... so«, sagte sie stockend.

Nun war Andrej an der Reihe, überrascht zu sein. Und alarmiert. »Was soll das heißen, du bist noch nicht lange so?«

Das Mädchen hob die Schultern. Ihr Blick verharrte für einen Moment auf Andrejs nun wieder unversehrtem Unterarm, als wären die Antworten auf alle Fragen dort zu lesen.

»Erst seit dem letzten Frühjahr«, sagte sie. »Ich war krank. Viele von uns sind krank geworden. Fast die Hälfte unserer Familie hat den Winter nicht überlebt, und auch ich habe eine Woche mit schwerem Fieber gelegen. Ich wäre fast gestorben. Aber nachdem ich wieder gesund war, da ... da war ich so. Es hat mir große Angst gemacht.«

»Und die anderen aus deiner Familie?«