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»Ich war die Einzige, die das Fieber überlebt hat«, antwortete Alessa.

»Niemand weiß ...« Sie brach ab, starrte einen Moment an Andrej vorbei ins Leere und verbesserte sich dann: »... wusste davon. Nur meine Mutter und Anka, die Puuri Dan unserer Sippe.«

Andrej blickte sie fragend an.

»Unsere heilige Frau. Jede Sintifamilie hat eine Puuri Dan. Die Alten bewahren das Wissen.«

Andrej musste sich beherrschen, um das Mädchen nicht mit Fragen zu überschütten. Plötzlich war er sehr aufgeregt. Wissen! Was hätte er darum gegeben, endlich zu erfahren, wer er war, was er war, und vor allem, wie er dazu geworden war. Aber er zügelte seine Neugier und sagte nur: »Rede weiter, Kind.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Alessa. »Sie waren sehr erschrocken. Anka hat mir eingeschärft, mit niemandem zu reden und mein Geheimnis für mich zu behalten, und das habe ich getan. Ich war sehr vorsichtig. Niemand hat etwas bemerkt. Aber gestern Abend ...« Sie begann zu weinen. »Es war meine Schuld. Wenn ich mich nicht mit dem Messer geschnitten hätte, dann wären die anderen jetzt noch am Leben.«

Andrej legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. Ihr Herz klopfte wie rasend, und er konnte selbst durch den Stoff ihres Kleides hindurch spüren, dass ihre Haut glühte. Ihr Fieber musste noch gestiegen sein.

»Mach dir keine Vorwürfe«, sagte er. »Früher oder später musste es passieren. Es ist nicht deine Schuld.«

»Anka hat gesagt, dass ich aufpassen soll«, beharrte Alessa schluchzend.

»Sie hat mich gewarnt, was passiert, wenn andere sehen, was ich bin. Selbst in unserer Sippe wusste es niemand.«

»Und was hat sie dir sonst noch über dich erzählt?«, fragte Andrej. Er konnte Abu Duns ärgerliches Stirnrunzeln geradezu körperlich spüren, aber er beachtete es nicht. Sein Herz begann vor Aufregung heftig zu klopfen.

Alessa schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Nichts?«

»Sie sagte, sie würde es mir später erklären«, antwortete Alessa leise.

»Wenn ich etwas älter wäre und es besser verstehen könnte. Sie hat nur gesagt, ich sollte mein Geheimnis für mich behalten und mich vor Blut in Acht nehmen. Ich habe das nicht verstanden.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und sah Andrej fragend an. »Kannst du es mir erklären?«

»Ja«, sagte Andrej. »Später. Wenn du etwas älter geworden bist.« Er wartete gerade lange genug, um die Enttäuschung in Alessas Augen erkennen zu können, ehe er grinsend hinzufügte: »Morgen.«

Alessa war nun völlig verwirrt. Andrej lächelte, zog die Hand zurück und zögerte einen kurzen Moment, ehe er sich mit untergeschlagenen Beinen vollends neben sie ins Gras sinken ließ.

»Ich weiß auch nicht sehr viel mehr als du«, begann er. »Eure Puuri Dan hätte es dir sicher erklären können, aber nun, wo sie tot ist...«

»Anka ist nicht tot«, sagte Alessa.

Andrej hob mit einem Ruck den Kopf. »Was sagst du da?«

»Jedenfalls war sie es im Frühjahr noch nicht«, antwortete Alessa. Ihre Tränen waren versiegt, und sie zog lautstark die Nase hoch. »Sie war alt, und die Reise war ihr wohl zu anstrengend. Wir wollten im Herbst wieder zu ihr zurückkehren.«

»Wohin?«, schnappte Andrej.

Alessa dachte einen Moment angestrengt nach und hob dann die Schultern.

»Ich weiß nicht mehr genau, wie der Ort hieß. Es war irgendwo im Bayerischen, vielleicht einen Tag von der Grenze entfernt. Wir wollten uns im Herbst dort wieder treffen.«

»Und du bist sicher, dass sie noch lebt?«

»Sie ist sehr alt«, antwortete Alessa zögernd und hob abermals die Schultern. »Aber eigentlich war sie gesund. Nur alt.« Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich habe Durst.«

Andrej stand auf, ging zu seinem Pferd und kam mit seiner Wasserflasche zurück. Alessas Hände zitterten, als sie nach der ledernen Flasche griffen, und sie leerte sie fast zu Gänze.

»Hast du dieses Fieber öfter?«, fragte Andrej, als er die Flasche zurücknahm.

Alessa schüttelte den Kopf. »Ich war nicht mehr krank seit dem letzten Winter.«

»Sorge dich nicht«, sagte Andrej mit einer Zuversicht, die er ganz und gar nicht empfand. Er machte sich Sorgen. Große Sorgen. Dennoch fuhr er fort: »Du wirst dich erholen. Wahrscheinlich ist morgen schon wieder alles in Ordnung. Versuch ein bisschen zu schlafen. Das wirkt manchmal Wunder.«

Alessa nickte dankbar und rollte sich gehorsam im Gras zusammen. Sie schlief sofort ein. Andrej sah lange Zeit wortlos auf sie herab, ehe er seinen Mantel von den Schultern löste und sie damit zudeckte. Dann ging er zum See, um seine Wasserflasche zu füllen.

Abu Dun folgte ihm. Als Andrej am Ufer niederkniete und die Flasche ins Wasser tauchte, fragte er: »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, ihr werdet nicht krank.«

Andrej hob die Schultern. »Nichts«, sagte er. »Vielleicht ist sie einfach noch nie zuvor so schwer verletzt worden.«

»Unsinn«, widersprach Abu Dun heftig. »Du selbst bist...«

»Auch meine Wunden heilen heute schneller als vor zehn Jahren«, unterbrach ihn Andrej. »Vielleicht werden wir immer stärker, je länger wir ...« Er zögerte. »Je länger wir sind, was wir sind.«

Irgendetwas sagte ihm, dass das nicht die Erklärung war. Es entsprach seinen Erfahrungen, aber es war nicht die Erklärung für Alessas Zustand, der ihm weit mehr Sorgen bereitete, als er Abu Dun gegenüber zugeben wollte.

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Abu Dun.

»Wir lassen sie eine Weile schlafen, dann reiten wir weiter.« Andrej verschloss die Flasche und stand auf.

»Es ist vielleicht nicht so klug, bei Tagesanbruch in Sichtweite dieses Schlosses zu sein, von dem sie gesprochen hat, o du begnadetster aller Fährtenleser.«

»Ich bin keine Eule, die in der Nacht sehen kann.« Abu Dun schürzte beleidigt die Lippen. »Das habe ich mit meiner Frage aber auch nicht gemeint.«

»Sondern?«

»Du weißt ganz genau, wovon ich rede«, antwortete Abu Dun mit einer verärgerten Kopfbewegung auf das schlafende Mädchen. »Manchmal ist es ganz leicht, deine Gedanken zu lesen. Im Moment leuchten sie dir regelrecht aus den Augen. Du würdest am liebsten jetzt gleich losreiten, um nach dieser alten Frau zu suchen, habe ich Recht?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Später ist es immer noch früh genug.«

Abu Dun seufzte. »Spiel keine Spielchen mit mir, Hexenmeister. Dazu bin ich zu müde.«

»Ein Grund mehr, ein wenig zu schlafen«, versetzte Andrej. »Sobald es hell wird, reiten wir weiter, und dann können wir immer noch entscheiden, wohin. Wer weiß, vielleicht findest du ja bei Tageslicht sogar aus diesem Wald heraus.«

Abu Dun starrte ihn feindselig an, dann drehte er sich um und ging. Schon nach wenigen Schritten war er in seiner schwarzen Kleidung mit der Nacht verschmolzen. Andrej überzeugte sich noch einmal davon, dass Alessa tief schlief, dann entfernte auch er sich ein paar Schritte und streckte sich im Gras aus. Es war kalt. Er fror, und während er einschlief, dachte er voller Bedauern an den Mantel, den er in einer plötzlichen Anwandlung von Ritterlichkeit über dem schlafenden Mädchen ausgebreitet hatte.

Aber es war eine seltsam wohltuende Art von Bedauern.

Er war nicht mehr allein.

Abu Dun weckte ihn. Noch bevor Andrej die Augen aufschlug, wusste er, dass es noch immer tiefste Nacht war, und er spürte, dass etwas nicht stimmte.

Mit einem Ruck öffnete er die Augen.

Das Gesicht des Nubiers schwebte über ihm, schwärzer als der Nachthimmel und von einem Ernst erfüllt, den Andrej schon lange nicht mehr darin erblickt hatte.

»Alessa«, sagte er.

Andrej sprang so hastig in die Höhe, dass Abu Dun zurückprallte und ungeschickt auf dem Hinterteil landete. Mit zwei gewaltigen Sätzen war Andrej bei dem Zigeunermädchen und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen.