Alessa lag auf der Seite und schien zu schlafen. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein friedlich entspannter, fast schon glücklicher Ausdruck. Sie atmete nicht, und als Andrej die Hand ausstreckte und sie an der Schulter berührte, spürte er, wie kalt ihre Haut war.
Hinter ihm stemmte sich Abu Dun ächzend in die Höhe und kam dann zögernd näher.
»Es tut mir so Leid«, murmelte er. »Aber sie war schon lange tot, als ich aufgewacht bin. Ich glaube nicht, dass sie gelitten hat. Wahrscheinlich hat sie gar nichts gespürt.«
Andrej hörte nicht einmal hin. Seine Hand lag noch immer auf Alessas Schulter, und die Kälte ihrer Haut schien mit jedem Herzschlag, auf den er vergeblich wartete, zuzunehmen. Er fühlte sich wie gelähmt. Es war unmöglich. Sie konnte nicht tot sein! Menschen dieser Art starben nicht einfach so! Niemals! Niemals!
»Es tut mir wirklich Leid«, sagte Abu Dun. Er ließ sich neben Andrej in die Hocke sinken und versuchte seine Hand von Alessas Schulter zu lösen.
Andrej stieß ihn weg. Es war unmöglich! Es konnte einfach nicht sein!
Der Nubier richtete sich wieder auf, hielt aber jetzt einen respektvollen Abstand zu ihm ein. Er sprach nicht mehr, sondern wartete geduldig, bis Andrej von sich aus das quälende Schweigen brach.
Es dauerte lange, sehr lange. Andrej konnte hinterher nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, bis er endlich aus seiner Starre erwacht war und die Hand vom Körper des toten Mädchens gelöst hatte. Als er sich aufrichtete, schmerzten seine Muskeln vor Verspannung. Abu Dun saß ein halbes Dutzend Schritte entfernt an einen Baum gelehnt und kaute auf einem Stück Fladenbrot herum, das er aus seiner Satteltasche geholt hatte. Dieser Anblick versetzte Andrej in rasende Wut. Dass Abu Dun jetzt aß, kam ihm würdelos vor.
Der Nubier schien seine Gedanken zu erraten, denn er ließ sofort das Brot sinken, schluckte den letzten Bissen hinunter und stand auf. »Wir müssen sie begraben«, sagte er.
Andrejs Zorn war schon wieder verraucht. Er sah auf das tote Mädchen hinab und nickte. Er fühlte sich leer. Das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen war, das er beim Aufwachen gehabt hatte, hatte sich bewahrheitet. Er hatte Alessas Nähe in sich gespürt, so wie er stets die Nähe eines anderen Unsterblichen gespürt hatte. Nun war dieses Gefühl fort, und in ihm herrschte eine tiefe, fast körperlich schmerzende Leere. Mit Alessa schien ein Teil von ihm gestorben zu sein.
»Ich verstehe das nicht«, flüsterte er. »Warum?«
Abu Dun zuckte nur mit den Schultern. Wenn Andrej es nicht wusste, woher sollte der Nubier die Antwort kennen?
Immerhin versuchte er, eine Erklärung zu finden. »Wir wissen nicht genau, was sie ihr angetan haben«, sagte er mit leiser, mitfühlender Stimme.
»Vielleicht haben sie sie vergiftet.«
»Man kann uns nicht vergiften«, sagte Andrej.
»Immerhin kannst du dich betrinken, wie du oft genug bewiesen hast«, sagte Abu Dun trocken. »Das ist auch eine Art von Vergiftung, oder?«
»Bitte, Abu Dun«, sagte Andrej leise. »Mir ist nicht nach Scherzen.«
»Das sollte auch kein Scherz sein«, antwortete der Nubier. »Wenn es etwas gibt, das dich umbringen kann, dann interessiert es mich. Dich sollte es übrigens auch interessieren.«
Andrej fuhr mit einer zornigen Bewegung herum und funkelte ihn an. »Abu Dun!«
Abu Dun versuchte sich in ein Lächeln zu retten, das aber reichlich verunglückt ausfiel. Endlich nickte er.
»Ich begrabe sie. Und danach sollten wir von hier verschwinden. Wir sollten möglichst weit weg sein, wenn es hell wird.«
Sie beerdigten Alessa mit Andrejs Mantel in einer flachen Grube, die Abu Dun im Wald ausgehoben hatte. Der Nubier hatte gewollt, dass sie ihren Körper nur mit Steinen bedeckten, um Zeit zu gewinnen, aber Andrej hatte dieses Ansinnen empört abgelehnt. Der Gedanke, dass wilde Tiere den Körper des Mädchens finden und anfressen konnten, war ihm schlichtweg unerträglich - ganz davon abgesehen, dass die Gefahr bestand, dass der Leichnam gefunden werden und eventuelle Verfolger auf ihre Spur bringen konnte.
Dass es Verfolger geben würde, das bezweifelten weder Abu Dun noch Andrej. Ganz bestimmt waren die Dörfler in ihrer Panik zum Schloss gerannt, um Beistand gegen die Dämonen zu erflehen, die sie so feige und vollkommen grundlos angegriffen hatten, falls man im Schloss nicht ohnehin den Feuerschein gesehen und Truppen losgeschickt hatte. Andrej fürchtete sie nicht. Wenn die beiden Männer, die er im Dorf erschlagen hatte, die Schlagkraft der Truppen widerspiegelten, dann würden Abu Dun und er auch mit einem Dutzend von ihnen fertig werden. Aber sie konnten sich keinen Kampf leisten. Sie hatten Siebenbürgen verlassen, um endlich ein ruhiges Leben zu führen und vielleicht sogar Frieden zu finden, nicht, um eine Spur aus Blut hinter sich herzuziehen. Andrej hatte sich längst eingestanden, dass sein überstürzter Rettungsversuch vom vergangenen Abend ein schwerer Fehler gewesen war. Abu Dun und er waren so auffällig, dass die Kunde dessen, was sie getan hatten, ihnen zweifellos über Tage vorauseilen würde - und zweifellos würde das, was sie den unschuldigen Menschen angetan hatten, mit jedem Mal düsterer ausgeschmückt werden, wenn jemand die Geschichte weitererzählte.
Vermutlich würden sie das Land verlassen müssen, bevor sie sich wieder einigermaßen sicher unter Menschen wagen konnten.
Sie folgten dem Ufer des Sees in westlicher Richtung, bis sie auf eine Straße stießen. Andrej war dagegen, ihr zu folgen, aber diesmal war es Abu Dun, der sich durchsetzte. Es war tiefste Nacht. Nirgendwo war ein Licht oder irgendein anderes Zeichen menschlichen Lebens zu sehen, und bis die Sonne aufging, würde noch viel Zeit vergehen. Zeit, in der sie auf der gepflasterten Straße ungleich schneller vorwärts kommen würden als im Wald. Sollten sie auf eine Ortschaft stoßen, so konnten sie die Straße immer noch verlassen und sich wieder in die Wälder schlagen. Abu Duns Ausführungen waren zu zwingend, um ihnen widersprechen zu können, und so willigte Andrej schließlich ein.
Er hätte auch gar nicht die Kraft gehabt, sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Nubier einzulassen. Noch immer fühlte er sich leer und so erschöpft, als kämen sie aus einer Schlacht. Er empfand keine wirkliche Trauer über Alessas Tod - dazu hatte er sie nicht gut genug gekannt - aber er war auf eine Weise enttäuscht, die er sich vorher nicht einmal hätte vorstellen können.
Enttäuscht und beunruhigt. Auch wenn er Abu Duns Worte einfach weggewischt hatte, so enthielten sie doch ein Furcht einflößendes Maß an Wahrheit. Wenn es etwas gab, das in der Lage gewesen war, dieses Mädchen zu töten, dann sollte er dem auf den Grund gehen.
Sie ritten, bis sich das erste Grau der Dämmerung am Horizont zeigte, dann zogen sie sich wieder in die Wälder zurück. Die Sterne waren längst verblasst, als sie endlich aus den Sätteln stiegen und ihre Pferde festbanden.
»Eigentlich bin ich noch gar nicht müde«, sagte Andrej, während er seinen Sattel vom Rücken des Pferdes wuchtete und ein Gähnen unterdrückte. »Wir könnten auch weiterreiten.«
»Das ist keine gute Idee«, erwiderte Abu Dun. »Während der nächsten Tage sollten wir lieber nur nachts reiten. Wahrscheinlich ist jetzt schon das ganze Land in Aufruhr und sucht nach uns.«
»Und du meinst, das tun sie nachts nicht?«
»Ich kenne mich in der Dunkelheit aus«, erwiderte Abu Dun in einer Schärfe, die keinen Widerspruch zu dulden schien. »Außerdem wäre es unklug, blind in der Gegend herumzustolpern. Wir müssen uns orientieren und darüber nachdenken, wohin wir gehen.«
»Ich weiß, wohin ich gehe«, antwortete Andrej. Er legte seinen Sattel ins taufeuchte Gras und dachte voller Bedauern an seinen Mantel zurück, in dem sie Alessa beerdigt hatten.
Abu Dun zog die Augenbrauen zusammen. Die Art, in der Andrej das Wort ich betont hatte, war ihm nicht entgangen.
»Das habe ich befürchtet«, grollte er.