da der Inhalt dieses Briefes Ihre Schwester »Mrs Cloade« erschrecken könnte, halte ich es für richtiger, mein Schreiben an Sie zu richten. Um mich kurz zu fassen: Ich habe Nachrichten von Captain Robert Underhay, was Ihre Schwester sicher freuen wird zu hören. Ich wohne im »Hirschen«. Falls Sie mich dort heute Abend aufsuchen wollen, werde ich Ihnen gern Näheres mitteilen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Enoch Arden
Ein erstickter Laut entfloh David. Rosaleen schaute lächelnd auf, wurde jedoch sogleich ernst, als sie das Gesicht ihres Bruders sah, und fragte beunruhigt:
»Was gibt’s denn, David?«
Er hielt ihr stumm den Brief entgegen.
Rosaleen las das Schreiben.
»Aber David… ich verstehe nicht, was… was hat das zu bedeuten?«
»Du kannst doch lesen, oder hast du’s verlernt?«
»Bedeutet das, dass wir… was sollen wir tun?«
Auf Davids Stirn hatten sich tiefe Querfalten gebildet. Nun nickte er seiner Schwester besänftigend zu.
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde die Sache erledigen.«
»Ja, aber bedeutet das, dass wir – «
»Hab nicht gleich Angst, Rosaleen. Ich werde dir sagen, was du tust. Du gehst gleich hinauf, packst ein Köfferchen und fährst nach London. Bleib in der Wohnung dort, bis du von mir hörst. Alles Übrige überlass ruhig mir.«
»Ja, aber – «
»Tu, was ich dir gesagt habe, Rosaleen.«
Er lächelte ihr zu und sprach freundlich und mit zuversichtlich klingender Stimme auf sie ein.
»Geh hinauf und pack deine Siebensachen. Ich fahre dich zum Bahnhof. Du kannst den 10-Uhr-32-Zug noch erwischen. Sag dem Portier in London, dass du niemanden zu sehen wünschst. Falls jemand nach dir fragt, per Telefon oder persönlich, so lass sagen, du seiest nicht da, du seiest nicht in der Stadt. Drück dem Portier ein Trinkgeld in die Hand, damit er’s nicht vergisst. Er darf niemanden zu dir lassen außer mir.«
»Oh!« Rosaleens Hände hoben sich in ängstlicher Geste.
»Es besteht kein Grund zu Befürchtungen«, versicherte David. »Aber die Situation ist nicht einfach, und du bist ihr nicht gewachsen. Deshalb will ich dich aus dem Weg haben. Ich werde schon damit fertig, hab keine Angst.«
»Kann ich nicht hier bleiben, David?«
»Nein, Rosaleen, sei vernünftig. Ich muss freie Hand haben mit diesem Burschen, wer immer er sein mag.«
»Glaubst du, dass er – «
»Im Augenblick glaube ich überhaupt nichts«, erwiderte David nachdrücklich. »Wir müssen der Reihe nach vorgehen. Und als Erstes musst du von der Bildfläche verschwinden. Dann kann ich herausfinden, wie die Dinge liegen. Sei vernünftig, Rosaleen, und beeil dich.«
Gehorsam verließ sie den Raum.
David musterte stirnrunzelnd den Brief in seiner Hand. Der Ton war höflich, der Inhalt nichtssagend. Irgendwelche Schlüsse aus den Zeilen zu ziehen, war schwierig. Möglich, dass der Schreiber ehrliche Besorgtheit ausdrücken wollte, möglich aber auch, dass es ihm darum zu tun war, eine versteckte Drohung anzubringen. Was David etwas seltsam erschien an dem Brief, waren die Anführungszeichen vor und nach dem Namen seiner Schwester. Dieses »Mrs Cloade« wirkte beunruhigend.
Er betrachtete die Unterschrift. Enoch Arden. Eine Erinnerung wurde geweckt, blieb aber verschwommen. Irgendwelche Verse hingen damit zusammen.
Als David an diesem Abend die Halle des »Hirschen« betrat, war, wie üblich, niemand da. Eine Tür an der linken Seite trug die Aufschrift »Café«, eine Tür an der rechten Seite war bezeichnet mit »Salon«. Eine weiter hinten liegende Tür führte zu Räumlichkeiten, die laut Hinweis »Nur für Hotelgäste« reserviert waren. Durch einen Korridor, der rechts abzweigte, kam man in die Wirtsstube, aus der gedämpftes Stimmengewirr herüberdrang. Auf die durchsichtige Vorderfront eines Glasverschlags war »Büro«, gemalt. Neben dem Schiebefenster stand vorsorglich eine Glocke.
Man mußte manchmal vier- oder fünfmal läuten, bevor sich jemand herabließ, nach den Wünschen des Gastes zu fragen. David wusste das aus Erfahrung. Bis auf die wenigen Stunden, in denen die Mahlzeiten serviert wurden, war die Halle des »Hirschen« meist menschenleer wie Robinson Crusoes Eiland.
Heute hatte David Glück. Schon beim dritten Läuten tauchte Miss Beatrice Lippincott von der Wirtsstube her auf und betrat, ihren leuchtend blonden Haarschopf zurechtstreichend, die Halle. Mit einem freundlichen Lächeln schlüpfte sie in den Glasverschlag: »Guten Abend, Mr Hunter. Kalt draußen für diese Jahreszeit, finden Sie nicht?«
»Ja. Ist bei Ihnen ein Mr Arden abgestiegen?«
»Warten Sie, ich will nachschauen«, erwiderte Miss Lippincott und blätterte im Gästebuch, als müsse sie sich vergewissern. Es war eine überflüssige kleine Prozedur, auf die sie nie verzichtete, wohl in der irrigen Ansicht, dadurch das Ansehen des »Hirschen« zu steigern.
»Ja, hier haben wir ihn. Nummer 5 im ersten Stock. Sie können nicht fehlgehen, Mr Hunter. Die Treppe hinauf und dann nicht zur Galerie, sondern links herum und drei Stufen hinunter.«
Dieser Anweisung folgend, stand David kurz darauf vor Nummer 5. Auf sein Klopfen rief eine Stimme: »Herein.«
David trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Beatrice Lippincott verließ den Glasverschlag und rief: »Lilly!«, woraufhin ein etwas dumm dreinschauendes Mädchen mit wässrigen Glotzaugen erschien.
»Können Sie mich für ein Weilchen vertreten, Lilly?«, fragte Miss Lippincott. »Ich muss nach der Bettwäsche sehen.«
Lilly kicherte unmotiviert und erwiderte: »Ja, Miss Lippincott.« Und mit einem sehnsüchtigen Seufzer fügte sie hinzu: »Ist der Mr Hunter nicht ein wunderschöner Mann?«
»Ach, ich habe einen Haufen junger Leute von seinem Schlag zu Gesicht bekommen während des Krieges«, tat Miss Lippincott die schwärmerische Bemerkung überlegen ab. »Junge Piloten vom Flugplatz drüben und was damals alles dort so herumschwirrte. Man wusste nie, ob die Schecks auch gut waren, die sie einem gaben. Aber sie hatten eine Art, dass man manchmal wider besseres Wissen handelte. Worauf ich Wert lege, Lilly, ist Klasse. Ein Gentleman ist ein Gentleman und lässt sich auf den ersten Blick erkennen, selbst wenn er einen Traktor fährt.«
Und mit dieser für Lilly nicht leicht zu verstehenden Feststellung verschwand Miss Lippincott in den oberen Regionen.
In Zimmer Nummer 5 blieb David bei der Tür stehen und sah zu dem Mann hinüber, der sich Enoch Arden nannte.
In den Vierzigern, taxierte David, weit herumgekommen, aber nicht immer glimpflich behandelt worden – alles in allem sicher kein leicht zu nehmender Mensch.
»Sind Sie Hunter?«, eröffnete Arden das Gespräch. »Nehmen Sie Platz. Was wollen Sie? Einen Whisky?«
Er selbst hatte es sich bequem gemacht, wie David bemerkte. Ein kleiner Vorrat an Flaschen stand bereit; im Kamin brannte Feuer, sehr angenehm an diesem kühlen Frühlingsabend. Die Kleidung war nicht von englischem Schnitt, aber salopp, wie Engländer sie zu tragen pflegen. Dem Alter nach hätte es stimmen können…
»Danke. Einen Whisky nehme ich gern.«
Sie benahmen sich ein wenig wie Hunde, die noch nicht recht wissen, woran sie miteinander sind. Gespannt, jeden Augenblick bereit, sich spielerisch zu balgen oder zuzuschnappen. Doch über den Gläsern löste sich die Spannung etwas. Die erste Runde war beendet.
Der Mann, der sich Enoch Arden nannte, sagte:
»Sie waren wohl überrascht, als Sie meinen Brief bekamen?«
»Ehrlich gestanden, weiß ich nicht recht, was ich davon halten soll. Ich entnehme Ihren Andeutungen nur, dass Sie den ersten Mann meiner Schwester, Robert Underhay, kannten.«
»Das stimmt. Ich kannte Robert sogar sehr gut.« Arden lächelte und vergnügte sich damit, blaue Rauchringe in die Luft zu blasen.
»So gut, wie man einen Menschen nur kennen kann. Sie sind nie mit ihm zusammengetroffen, Hunter, nicht wahr?«