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Das Telefon schrillte.

Lynn holte tief Atem, dann ging sie quer durch die Halle und nahm den Hörer ab.

Wie ein unerwarteter heftiger Schlag traf der Klang von Tante Kathies Stimme ihr Ohr.

»Bist du’s, Lynn? Ach, bin ich froh, dass du da bist. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich glaube, ich habe wegen der Versammlung im Institut ein unverzeihliches Durcheinander angerichtet. Nämlich – « Und die Stimme plätscherte ohne Pause fort.

Lynn hörte zu, warf die von ihr erwarteten Bemerkungen ein, redete zu, nahm höflich überschwänglichen Dank entgegen.

»Ich begreife gar nicht, was das ist«, fuhr Tante Kathie fort. »Jedes Mal, wenn ich etwas organisiere, kommt ein Durcheinander heraus.«

Lynn begriff es ebenso wenig, aber eines stand fest: Zum Durcheinanderbringen selbst der einfachsten Dinge besaß Tante Kathie eine geradezu geniale Begabung.

»Und mein Pech ist, dass immer alles Unangenehme zusammentrifft. Unser Telefon ist kaputt, und ich musste zu einer Telefonzelle gehen. Und wie ich meine Tasche aufmache, sehe ich, dass ich keine Münzen habe. Ich musste erst jemanden fragen, ob er mir vielleicht wechseln könnte…«

Es folgte eine lange Geschichte all der Nöte, die Tante Kathie hatte durchstehen müssen. Endlich konnte Lynn den Hörer wieder auflegen. Langsam kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

»War das –?«, begann Mrs Marchmont forschend, brach jedoch dann ab.

»Tante Kathie«, gab Lynn müde Auskunft.

»Was wollte sie denn?«

»Ach, ihr Leid klagen wie üblich. Sie hat wieder irgendetwas durcheinander gebracht und weiß sich keinen Rat.«

Lynn nahm ein Buch zur Hand und setzte sich. Verstohlen blickte sie auf die Uhr. Es würde kein Anruf mehr kommen. Doch fünf Minuten nach elf Uhr läutete das Telefon. Ohne jede Eile begab sie sich in die Halle. Vermutlich war es wieder Tante Kathie.

»Ist dort Warmsley Vale 34? Voranmeldung für Miss Lynn Marchmont aus London.«

Ihr Herz klopfte erregt.

»Am Apparat.«

»Einen Augenblick bitte.«

Sie wartete. Verwischte Geräusche drangen an ihr Ohr, dann herrschte Ruhe. Der Telefondienst wurde immer unzuverlässiger. Sie wartete geraume Zeit. Schließlich sagte eine unpersönliche Frauenstimme: »Legen Sie bitte auf. Wir melden uns, sobald Ihr Gespräch kommt.«

Sie legte den Hörer auf und ging zurück zur Tür. Sie hatte die Hand noch auf der Klinke, als das Telefon abermals schrillte. Schnell lief sie zurück.

»Hallo?«

Eine Männerstimme erklang: »Warmsley Vale, Nummer 34? Miss Lynn Marchmont wird aus London verlangt.«

»Ja, am Apparat.«

»Einen Augenblick bitte.« Und gleich darauf, leiser: »Sie können sprechen.«

Und dann kam Davids Stimme. »Bist du’s, Lynn?«

»David!«

»Ich musste dich sprechen.«

»Ja…«

»Lynn, ich glaube, es ist besser, ich mache mich aus dem Staub…«

»Was meinst du damit?«

»Ich verlasse England. Es hat ja doch alles keinen Sinn, Lynn. Du und ich – wir passen nicht zueinander. Du bist ein lieber Kerl, Lynn, du verdienst etwas Besseres als mich. Ich kann’s nicht ändern, ich war immer so – Verantwortungsgefühl liegt mir nicht. Und ich fürchte, so werde ich mein Leben lang bleiben. Ich würde mir steif und fest vornehmen, mich zu bessern, solide und ehrenhaft zu werden – und das Ende vom Lied wäre, dass du unglücklich bist und ich der gleiche unstete Geselle geblieben bin, der ich war. Nein, Lynn, heirate Rowley. Bei ihm wirst du nie eine Stunde der Angst oder Unruhe kennen lernen, während dein Leben an meiner Seite die Hölle wäre.«

Lynn stand da, den Hörer am Ohr. Sie gab keinen Ton von sich.

»Lynn! Bist du noch da?«

»Ja, ich bin da.«

»Du sagst ja gar nichts.«

»Was ist da zu sagen?«

»Lynn…?«

»Ja.«

Sonderbar, wie sie trotz der Entfernung seine Erregung verspürte, die Spannung, in der er sich befand.

David sagte mit unterdrückter Stimme: »Ach, hol doch alles der Teufel!«, und warf den Hörer auf die Gabel.

In diesem Augenblick kam Mrs Marchmont aus dem Wohnzimmer und fragte: »War das –?«

»Eine falsche Nummer«, wehrte Lynn alle weiteren Fragen ab und lief rasch hinauf in ihr Zimmer.

16

Im »Hirschen« war es üblich, die Gäste zu der von ihnen gewünschten Stunde zu wecken, indem man mit der Faust an die betreffende Tür hämmerte und mit erhobener Stimme mitteilte, dass es halb acht Uhr, oder acht Uhr oder wie spät es eben gerade war, sei. Wünschten die Gäste vor dem Aufstehen eine Tasse Tee, so wurde ein Tablett mit viel Geklirr und Gepolter auf die Matte vor der Tür gestellt.

An jenem bestimmten Mittwoch hämmerte Gladys, das Stubenmädchen, an die Tür von Nummer 5, trompetete, dass es acht Uhr fünfzehn sei, und knallte das Tablett mit dem Tee mit solcher Wucht auf die Matte, dass die Milch überschwappte und um das Milchkännchen einen kleinen See bildete. Gladys ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen, weckte weitere Gäste und ging dann ihren sonstigen Morgenarbeiten nach.

Gegen zehn Uhr fiel ihr auf, dass Nummer 5 das Teetablett noch nicht hereingeholt hatte. Sie klopfte mehrmals kräftig an die Tür, wartete ein paar Sekunden und trat, als keine Antwort zu hören war, kurzerhand ein.

Nummer 5 gehörte nicht zu der Sorte Leute, die sich verschliefen, und ihr war gerade eingefallen, dass sich vor dem Fenster dieses Zimmers ein bequemes Flachdach befand. Wer weiß, vielleicht hatte sich der Gast mit einem eleganten Sprung aus dem Staub gemacht, ohne seine Rechnung zu bezahlen.

Doch der Mann, der sich Enoch Arden nannte, hatte keinen Sprung über das Flachdach gemacht. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden in der Mitte des Zimmers, und selbst ohne die geringsten medizinischen Kenntnisse zu besitzen sah Gladys, dass der Mann tot war.

Sie stieß einen schrillen Schrei aus, rannte auf den Korridor hinaus und rief aus Leibeskräften:

»Miss Lippincott… Miss Lippincott… oooh…«

Beatrice Lippincott saß in ihrem Privatzimmer und hielt Dr. Lionel Cloade ihre verletzte Hand hin – sie hatte sich geschnitten –, die der Arzt eben verband.

Gladys riss die Tür auf.

»O Miss Lippincott…«

»Was ist denn passiert?«, fuhr der Arzt sie an.

»Was gibt’s denn, Gladys?«, erkundigte sich Beatrice.

»Der Herr von Nummer 5, Miss… Er liegt in der Mitte vom Zimmer… tot!«

Dr. Cloade starrte erst Gladys an und dann Miss Lippincott. Miss Lippincott starrte ihrerseits zuerst Gladys an und dann Dr. Cloade.

Schließlich stieß Dr. Cloade brummig aus: »Unsinn!«

»Tot wie eine Maus, die im Wasser schwimmt«, beharrte Gladys, und mit einer gewissen Genugtuung über den ihr noch verbliebenen Trumpf fügte sie hinzu:

»Er is’ übern Kopf geschlagen worden.«

Der Arzt meinte: »Vielleicht wäre es besser, wenn ich…«

»Ja, bitte, Dr. Cloade, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie das möglich sein sollte«, entgegnete Beatrice fassungslos.

Zu dritt machten sie sich auf den Weg, voran Gladys. Dr. Cloade betrat das Zimmer, warf einen Blick auf den am Boden liegenden Mann und kniete dann neben der gekrümmten Gestalt nieder.

Als er sich wieder erhob, schien er wie verwandelt.

»Benachrichtigen Sie die Polizei«, befahl er mit fester Stimme. Beatrice Lippincott verließ stumm das Zimmer. Gladys folgte ihr auf dem Fuß.

»Glauben Sie, dass er ermordet worden ist, Miss?«, flüsterte sie mit beinahe erloschener Stimme.

»Halten Sie den Mund, Gladys«, wies Beatrice sie zurecht und nestelte erregt an ihrem Haarknoten herum. »Etwas als Mord zu bezeichnen, bevor man sicher ist, dass es sich wirklich um Mord handelt, ist Verleumdung, und man kann Sie für solch dummes Gerede vor Gericht bringen.« Etwas milder setzte sie hinzu: »Gehen Sie in die Küche, und stärken Sie sich mit einer Tasse Tee.«