»Dritter Stock. Soll ich Sie anmelden?«
»Ist sie da?«, erkundigte sich Spence. »Ich dachte schon, sie wäre womöglich auf dem Land.«
»Nein, sie ist schon seit letztem Sonnabend hier.«
»Und Mr David Hunter?«, forschte der Inspektor.
»Mr Hunter ist ebenfalls da.«
»War er nicht weg?«
»Nein.«
»Und letzte Nacht war er auch hier?«
»Was soll dieses Gefrage eigentlich bedeuten?«, fuhr der General erzürnt auf. »Soll ich Ihnen vielleicht die Lebensgeschichte von jedem einzelnen unserer Gäste erzählen?«
Ohne ein Wort zu erwidern, zog Inspektor Spence seinen Dienstausweis aus der Tasche. Der General gab sofort seine Angriffsstellung auf und zog sich in die Verteidigung zurück. »Entschuldigen Sie bitte. Ist mir sehr peinlich. Aber wie konnte ich das wissen?«
»Na, und war Mr Hunter gestern Nacht nun hier oder nicht?«, fragte Spence.
»Er war hier. Wenigstens soweit ich im Bilde bin. Das heißt, er hat nichts von Weggehen gesagt.«
»Erfahren Sie es immer, wenn einer der Gäste, sagen wir Mr Hunter, abwesend ist?«
»Nicht immer. Aber im Allgemeinen sagen es einem die Herrschaften, wenn sie wegfahren, schon wegen der Post oder falls angerufen wird.«
»Laufen alle Anrufe über dieses Büro?«
»Nein, die meisten Appartements haben eigene Telefonanschlüsse. Nur ein oder zwei ziehen es vor, sich kein Telefon hinauflegen zu lassen. Kommt ein Anruf, dann geben wir durchs Haustelefon Bescheid in das betreffende Zimmer, und die Herrschaften kommen in die Halle herunter und sprechen von dort.«
»Aber in Mrs Cloades Appartement ist ein Telefon installiert?«
»Ja.«
»Und soweit Sie unterrichtet sind, waren beide Herrschaften gestern Abend und gestern Nacht im Haus?«
»Ja.«
»Wie steht’s mit den Mahlzeiten?«
»Wir haben ein Restaurant, aber Mrs Cloade und Mr Hunter nutzen dessen Angebot nicht oft. Meist gehen sie zum Essen aus.«
»Und das Frühstück?«
»Das wird aufs Zimmer serviert.«
»Können Sie sich erkundigen, ob heute Morgen Frühstück in Mrs Cloades Appartement gebracht wurde?«
»Gewiss, Inspektor, das kann mir der Kellner sagen, der Zimmerdienst hatte.«
Spence nickte zufrieden.
»Finden Sie das heraus. Ich gehe jetzt hinauf. Wenn ich wieder herunterkomme, sagen Sie mir Bescheid.«
»Selbstverständlich, Inspektor. Sie können sich auf mich verlassen.«
Spence betrat den Fahrstuhl und fuhr in den dritten Stock hinauf. Es befanden sich nur zwei Appartements auf jeder Seite. Der Inspektor klingelte bei Nummer 9.
David Hunter öffnete. Er kannte den Beamten nicht und fragte unwirsch:
»Was ist los?«
»Mr Hunter?«, sagte Spence fragend.
»Ja.«
»Ich bin Inspektor Spence von der Oastshire County Polizei. Kann ich Sie einen Moment sprechen?«
»Entschuldigung, Inspektor.« David grinste. »Ich dachte, Sie wollten mir irgendwas verkaufen.«
Er führte den Inspektor in den modern eingerichteten Salon. Rosaleen hatte am Fenster gestanden und drehte sich beim Eintritt der beiden Männer um.
»Das ist Inspektor Spence, Rosaleen«, stellte David vor. »Setzen Sie sich, Inspektor, und machen Sie sich’s bequem. Wie steht’s mit einem Whisky?«
»Danke, Mr Hunter.«
Rosaleen hatte sich gesetzt. Die Hände ineinander verkrampft, beobachtete sie den Inspektor.
»Rauchen Sie?«
David bot Zigaretten an.
»Danke.«
Spence nahm eine der Zigaretten und wartete. David fuhr mit der Hand in die Tasche, runzelte die Stirn und sah sich dann suchend nach Zündhölzern um. Er nahm eine Schachtel vom Tisch und gab dem Inspektor Feuer.
»Na?«, meinte David zwischen zwei Zügen, nachdem auch er sich eine Zigarette angezündet hatte. »Was ist passiert in Warmsley Vale? Hat sich unsere Köchin etwa bei Einkäufen auf dem schwarzen Markt erwischen lassen? Sie tischt uns wunderbare Mahlzeiten auf, und ich habe mich schon längst gefragt, ob sie nicht über irgendwelche dunklen Quellen verfügt.«
»Leider geht es um etwas Schlimmeres als das. Gestern Nacht starb ein Mann im Hotel ›Hirschen‹. Sie haben vielleicht darüber in der Zeitung gelesen.«
David schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich habe nichts gesehen. Was war mit ihm?«
»Genauer gesagt, er starb nicht, sondern er wurde ermordet«, berichtigte der Inspektor. »Er wurde erschlagen.«
Ein halb erstickter Schreckenslaut entrang sich Rosaleens Lippen. David sagte schnelclass="underline"
»Verschonen Sie uns mit Einzelheiten, Inspektor, ich bitte Sie. Meine Schwester ist sehr empfindlich. Sie kann nichts dafür, aber sobald von Blut und Schreckenstaten die Rede ist, wird sie ohnmächtig.«
»Entschuldigen Sie bitte.« Der Inspektor deutete eine kleine Verbeugung an, fuhr jedoch unverdrossen fort: »Von Blut kann auch eigentlich nicht die Rede sein. Obwohl es ganz eindeutig Mord war.«
Er schaltete eine Pause ein. Davids Augenbrauen hoben sich fragend. Als der Inspektor nicht fortfuhr, fragte er sehr freundlich.
»Und was haben wir damit zu tun?«
»Ich hoffte, Sie könnten mir etwas über den Ermordeten erzählen, Mr Hunter?«
»Ich?«
»Ja. Sie haben ihn doch am letzten Sonnabend besucht. Sein Name – oder jedenfalls der Name, unter dem er sich eingetragen hatte – war Enoch Arden.«
»Ach ja, natürlich. Jetzt erinnere ich mich.«
David sprach ruhig, ohne jede Nervosität.
»Aber ich fürchte, ich kann Ihnen wenig helfen, Inspektor. Ich weiß so gut wie nichts von dem Mann.«
»Wieso suchten Sie ihn dann auf?«
»Ach, die übliche Geschichte. Er hatte sich an mich gewandt, weil es ihm schlecht ging. Er erwähnte ein paar Städte, in denen ich auch gelebt habe, nannte Bekannte von mir, mit denen er zusammengetroffen war, erzählte vom Krieg, packte Erlebnisse aus – wie das so zu sein pflegt.« David zuckte die Achseln. »Es war ein Pumpversuch, nichts weiter, und was er mir auftischte, war reichlich fadenscheinig.«
»Haben Sie ihm Geld gegeben?«
Für den Bruchteil einer Sekunde schien David zu zögern, dann erwiderte er:
»Nur eine Fünfernote, mehr als Glücksbringer gemeint. Der Mann hatte schließlich den Krieg mitgemacht.«
»Und er nannte Namen von Bekannten?«
»Ja.«
»Nannte er auch Captain Robert Underhay?«
Diesmal hatte der Inspektor die Genugtuung, eine Wirkung seiner Frage beobachten zu können. David richtete sich auf. Seine Haltung wurde steif. Rosaleen, die hinter ihm saß, stieß einen kleinen Schrei aus.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte David schließlich. Seine Augen versuchten den anderen zu durchdringen.
»Wir haben eine dahingehende Information erhalten«, gab Spence vage Auskunft.
Es entstand eine kleine Pause. Der Inspektor spürte Davids forschenden Blick auf sich ruhen.
»Wissen Sie, wer Robert Underhay war, Inspektor?«, fragte David schließlich.
»Wie wär’s, wenn Sie es mir erzählten?«, kam die Gegenfrage.
»Robert Underhay war der erste Mann meiner Schwester. Er starb vor ein paar Jahren in Afrika.«
»Sind Sie dessen ganz sicher?«, erkundigte sich Spence sachlich.
»Ganz sicher. Stimmt’s, Rosaleen?«
David drehte sich zu seiner Schwester um.
»Ja… ja, natürlich.« Sie sprach hastig und kurzatmig. »Robert starb an Sumpffieber. Es war sehr traurig.«
»Es muss nicht unbedingt alles wahr sein, was gesagt wird, Mrs Cloade. Manchmal wird von Ereignissen berichtet, die gar nicht stattgefunden haben.«
Rosaleen gab keine Antwort. Ihre Augen hingen an David. Nach einer ängstlichen Pause stammelte sie:
»Robert ist tot.«
»Wie ich erfahren habe, behauptete dieser Enoch Arden, ein Freund von Captain Robert Underhay zu sein. Außerdem hat er Ihnen mitgeteilt, dass sich Underhay noch am Leben befände.«