»Das ist ja eben der Haken. Es scheint sehr schwierig zu sein, jemanden zu finden, der darüber Auskunft geben kann. Und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Sie sollen jemanden aufspüren, der Robert Underhay kennt oder kannte.«
»Und wieso wenden Sie sich da gerade an mich?«
Rowley sah verwirrt aus.
In Poirots Augen trat ein amüsiertes Funkeln.
»Hat Sie vielleicht auch eine spiritistische Eingebung zu mir geführt?«
»Um Himmels willen! Nein!«, wehrte Rowley entsetzt ab. »Ein Freund hat mir von Ihnen erzählt. Sie seien Spezialist in solchen Dingen, hat er gesagt. Ich nehme an, es kostet eine Menge Geld, solche Nachforschungen anzustellen, und ich bin nicht gerade reich, aber ich glaube, in diesem Fall könnten wir es – ich meine, die Familie – mit vereinten Kräften schaffen, die Summe auf zutreiben. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie den Auftrag annehmen wollen.«
»Ich denke, dass ich Ihnen behilflich sein kann«, entgegnete Hercule Poirot langsam.
Seine kleinen grauen Zellen arbeiteten. Namen aus der Vergangenheit, Begebenheiten und Begegnungen fielen ihm ein.
»Könnten Sie heute Nachmittag noch mal bei mir vorbeischauen, Mr Cloade?«, erkundigte er sich.
»Heute Nachmittag?«, fragte Rowley erstaunt. »Aber in so kurzer Zeit werden Sie doch kaum etwas herausgefunden haben!?«
»Ich kann nicht dafür garantieren, es besteht jedoch eine Möglichkeit.«
In Rowleys Augen lag ein Ausdruck derart fassungsloser Bewunderung, dass Poirot schon übermenschliche Charakterstärke hätte besitzen müssen, um nicht der Versuchung zu erliegen, sich geschmeichelt zu fühlen.
»Man hat so seine Methoden«, sagte er mit unnachahmlich würdevoller Schlichtheit.
Es war die richtige Antwort gewesen. Der ungläubige Ausdruck in Rowleys Augen verwandelte sich in Respekt.
»Natürlich… ich verstehe… obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie Sie so etwas fertig bringen«, stammelte er.
Poirot verzichtete darauf, seinen Besucher aus seiner Unwissenheit zu erlösen. Stattdessen wartete er, bis Rowley gegangen war, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, schrieb ein kurzes Briefchen und beauftragte seinen Diener George, die Nachricht in den Coronation Club zu bringen und dort auf Antwort zu warten.
Die Antwort fiel sehr zufriedenstellend aus. Major Porter dankte Monsieur Hercule Poirot für seine freundlichen Zeilen und drückte seine freudige Bereitwilligkeit aus, Monsieur Poirot und dessen Freund am Nachmittag des gleichen Tages um fünf Uhr in seiner Wohnung in Campdon Hill zu empfangen.
Um halb fünf war Rowley Cloade zur Stelle.
»Wie steht’s, Monsieur Poirot? Hatten Sie Glück?«
»Selbstverständlich, Mr Cloade. Wir machen uns gleich auf den Weg zu einem alten Freund von Robert Underhay.«
»Was?« Rowley meinte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Aber das ist ja kaum zu glauben! Vor ein paar Stunden habe ich Ihnen die Sache erst erzählt, und schon haben Sie einen Freund Underhays entdeckt? Phantastisch!«
Poirot machte eine abwehrende Handbewegung und versuchte, bescheiden dreinzuschauen. Er hütete sich, Rowley darüber aufzuklären, wie einfach seine Methode in diesem Fall gewesen war.
Major Porter bewohnte den oberen Stock eines kleinen, wenig gepflegten Hauses. Das Zimmer, in welches man die beiden Herren führte, war ringsum mit Bücherregalen voll gestellt. Über den Regalen hingen billige Drucke, meist Szenen aus der Welt des Sports darstellend. Auf dem Boden lagen zwei einst sehr gute, doch nun vom Gebrauch dünn gewordene Teppiche.
Der Major erwartete die Herren.
»Tut mir wirklich Leid, Monsieur Poirot, aber ich kann mich nicht erinnern, Ihnen schon mal begegnet zu sein. Im Club, sagen Sie? Vor längerer Zeit? Ihr Name ist mir selbstverständlich bekannt.«
»Und dies ist Mr Rowley Cloade«, stellte Poirot vor.
Major Porter machte eine steife Bewegung mit dem Kopf, was seiner Art einer höflichen Begrüßung entsprach.
»Freut mich«, sagte er wohlerzogen. »Bedaure unendlich, Ihnen nicht einmal ein Glas Sherry anbieten zu können, aber das Lager meines Weinlieferanten wurde von Bomben getroffen. Das einzige, was ich im Haus habe, ist etwas Gin, miserable Qualität allerdings, meiner Meinung nach. Wie steht es mit einem Glas Bier?«
Man einigte sich auf Bier. Der Major bot Poirot eine Zigarette an.
»Sie rauchen ja nicht«, bemerkte er, zu Rowley gewandt. »Gestatten die Herren, dass ich meine Pfeife anzünde?« Und nachdem er mit einiger Mühe diese Prozedur vollzogen hatte, sagte er: »Und nun: Worum handelt es sich?«
»Sie haben vielleicht in den Zeitungen Berichte über den Tod eines Mannes in Warmsley Vale gelesen?«, begann Poirot.
Porter schüttelte den Kopf.
»Möglich, erinnere mich aber nicht daran.«
»Der Name des Mannes war Arden. Enoch Arden.«
Porter schüttelte abermals den Kopf.
»Der Mann wurde mit eingeschlagenem Schädel in seinem Zimmer im Hotel ›Zum Hirschen‹ gefunden.«
»Warten Sie…«, der Major runzelte nachdenklich die Stirn. »Doch, mir scheint, ich habe da vor ein paar Tagen eine Notiz gelesen.«
»Ich habe hier ein Foto dieses Mannes«, fuhr Poirot fort. »Es ist eine Presseaufnahme, nicht besonders scharf, aber vielleicht genügt sie. Wir möchten wissen, ob Sie diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen haben.«
Er reichte dem ehemaligen Offizier die beste Aufnahme, die er von Enoch Arden hatte auftreiben können.
Der Major nahm das Bild.
»Lassen Sie mich mal sehen…«, sagte er langsam.
Plötzlich fuhr er mit einem Ruck zurück.
»Aber das ist doch… Der Teufel soll’s holen…«
»Sie kennen den Mann, Major Porter?«
»Natürlich kenne ich ihn«, rief der Major. »Es ist Underhay. Robert Underhay.«
»Sind Sie Ihrer Sache sicher?« Die Genugtuung in Rowleys Stimme war unverkennbar.
»Selbstverständlich bin ich meiner Sache sicher. Robert Underhay, ich würde jeden Eid darauf leisten.«
20
Das Telefon klingelte, und Lynn eilte an den Apparat. »Lynn?«
Es war Rowley.
»Rowley?« – Ein fremder Ton klang in Lynns Stimme mit.
»Was ist los mit dir?«, erkundigte sich Rowley. »Man sieht dich ja gar nicht mehr.«
»Ach, die Zeit verfliegt nur so, ich weiß es selbst nicht. Man muss sich für alles anstellen, am Morgen für Fisch und am Nachmittag für ein Stückchen klebrigen Kuchen, und im Handumdrehen ist so ein Tag herum. Das ist das gemütliche Leben daheim heutzutage.«
»Ich muss dich sehen. Etwas Wichtiges.«
»Was gibt’s denn?«
»Gute Nachrichten. Komm zum oberen Hügel. Wir pflügen dort.«
Gute Nachrichten? Nachdenklich hängte Lynn ein. Was bezeichnete Rowley Cloade wohl als eine gute Nachricht? Vielleicht hatte er den jungen Stier zu einem besseren Preis als vorgesehen verkaufen können?
Nein, es musste etwas Bedeutenderes sein als das. Sie machte sich auf den Weg. Als sie sich dem bezeichneten Hügel näherte, kletterte Rowley vom Traktor und kam ihr entgegen.
»Tag, Lynn.«
»Tag, Rowley. Nanu… du siehst ja ganz verändert aus!«
»Das will ich meinen. Ich habe auch allen Grund dazu. Das Blatt hat sich gewendet, und zwar diesmal zu unserem Vorteil, Lynn.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Erinnerst du dich an einen gewissen Hercule Poirot, von dem Onkel Jeremy einmal erzählte?«
»Hercule Poirot?« Lynn überlegte. »Mir ist, als hätte ich den Namen schon gehört.«
»Es liegt bereits einige Zeit zurück. Es war noch während des Krieges. Und Onkel Jeremy kam aus diesem Mausoleum von einem Club, dem er angehört, und erzählte von mehreren Leuten, die er dort getroffen hatte. Vor allem von diesem sonderbaren kleinen Mann. Trägt ausgefallene Kleidung und einen komischen Schnurrbart, aber er ist nicht auf den Kopf gefallen. Franzose oder Belgier wird er wohl sein.«