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»Die Frage schlägt nicht in mein Fach«, wehrte der Inspektor lächelnd ab.

»Ich glaube doch. Charakter, mon ami, ist nichts Feststehendes, Unwandelbares. Ein Charakter kann erstarken, aber auch schwach werden. Wie der Charakter eines Menschen in Wahrheit beschaffen ist, tritt erst zutage, wenn eine Prüfung an ihn herantritt. Wenn ein Mensch auf sich selbst gestellt ist, dann erweist sich erst, ob er stark oder schwach ist.«

»Ich weiß nicht recht, worauf Sie hinauswollen.« Spence sah etwas verwirrt drein. »Die Cloades machen alle einen guten Eindruck auf mich. Es ist eine anständige Familie, und Sie werden sehen, wenn der Prozess erst vorbei ist, werden sie alle tadellos dastehen.«

»Wir haben immer noch Mrs Gordon Cloades Aussage«, fuhr Poirot fort. »Schließlich ist anzunehmen, dass eine Frau ihren eigenen Mann erkennt, wenn sie ihn sieht.«

Er blinzelte zu dem ihn überragenden Inspektor auf.

»Wenn ein Millionenvermögen auf dem Spiel steht, lohnt sich’s vielleicht für eine Frau, ihren Mann nicht zu erkennen«, gab Spence zurück. »Und außerdem – wenn der Mann nicht Robert Underhay war, warum wurde er dann ermordet?«

»Das ist eben die große Frage«, murmelte Hercule Poirot. 

24

Als Poirot am Abend dieses Tages in den »Hirschen«, zurückkehrte, blies ein scharfer Ostwind. Fröstelnd betrat der Detektiv die – wie stets – verlassen und öde daliegende Halle.

Er stieß die Tür zum Salon auf, aber das nur noch glimmende Feuer im Kamin und der unangenehme Geruch erkalteter Zigarrenasche waren wenig verlockend.

Poirot durchschritt die Halle und öffnete die Tür mit der Aufschrift: »Nur für Gäste.«

Hier knisterte ein behagliches Feuer im Kamin, aber in einem der Sessel hatte sich eine alte Dame von Achtung gebietendem Umfang niedergelassen, und der empörte Blick, den sie dem Eindringling zuwarf, war so durchdringend, dass Poirot sich nur widerstrebend näherte.

»Dieser Salon ist für die Gäste des Hotels reserviert«, belehrte sie ihn mit zürnender Stimme.

»Ich gehöre zu den Gästen des Hotels«, klärte Poirot sie höflich auf.

Die alte Dame überdachte das Gehörte einen Augenblick, bevor sie ihre Attacke wieder aufnahm.

»Sie sind ein Ausländer«, war ihre nächste, keineswegs freundliche Feststellung.

»Jawohl.«

»Meiner Meinung nach sollten sie alle zurückgehen«, trompetete die alte Dame.

»Zurückgehen? Wohin?«, erkundigte sich Poirot verständnislos.

»Dorthin, woher sie gekommen sind.«

Und mit etwas gedämpfter Stimme und verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln fügte sie hinzu:

»Ausländer!«

»Das dürfte schwer sein.«

Poirot behielt seinen zurückhaltend höflichen Ton bei.

»Unsinn«, wies die alte Dame ihn zurecht. »Dafür haben wir schließlich den Krieg geführt. Dafür haben wir gekämpft, dass jeder wieder dahin zurückgeht, wohin er gehört, und dort bleibt.«

Poirot verzichtete auf eine Diskussion über dieses heiß umstrittene Thema. Er hatte längst festgestellt, dass jeder eine andere Auffassung darüber hatte, »wofür der Krieg ausgefochten« worden war.

Ein Weilchen herrschte ziemlich feindselig anmutendes Schweigen.

»Ich weiß nicht, wozu das alles noch führen soll«, nahm nach einiger Zeit die alte Dame das Gespräch wieder auf. »Ich komme jedes Jahr für einen Monat her. Mein Mann starb hier vor sechzehn Jahren. Er liegt hier begraben. Und sooft ich komme, ist es schlimmer bestellt um dieses Hotel. Das Essen ist bald ungenießbar. Wiener Schnitzel! Dass ich nicht lache. Schnitzel! Das hat es früher nicht gegeben, solchen Firlefanz. Rumpsteak oder Filetsteak, aber nicht gehacktes Pferdefleisch!«

Poirot nickte in betrübtem Einverständnis.

Die alte Dame hüstelte und überließ sich dann mit ungezügelter Energie ihrem Ärger, froh, in Poirot einen Zuhörer gefunden zu haben.

»Und wie die Frauen heutzutage rumlaufen! In Hosen! Du lieber Himmel, sie würden darauf verzichten, könnten sie sich von hinten sehen. Und wie sie sich gebärden, es ist eine Schande. Laufen jedem Mannsbild nach, das sie nur von weitem sehen. Keine Röcke mehr, wie sich’s gehört, kein ordentliches Benehmen mehr. Und was tragen sie auf dem Kopf? Keinen Hut, Gott bewahre, nein, irgendein buntes Stück Tuch wickeln sie sich um ihr gefärbtes Haar. Dazu schmieren sie sich Schminke ins Gesicht und lackieren sich nicht nur die Fingernägel, sondern auch noch die Fußnägel. Pfui Teufel! Als ich jung war, führte man sich anders auf.«

Poirot musterte die erzürnte, grauhaarige alte Dame verstohlen. Es schien ihm unvorstellbar, dass sie einmal jung gewesen sein sollte.

»Steckte doch neulich eines von diesen frechen Dingern den Kopf da zur Tür herein. Einen orangenen Schal um den Kopf geschlungen, Hosen an und das Gesicht ein einziger Farbfleck von Rouge und Puder. Ich hab ihr einen Blick zugeworfen! Nur einen Blick! Aber sie hat sofort verstanden und ist verschwunden.«

Ein Schnauben der Entrüstung wurde eingeschaltet. Dann ging es weiter.

»Sie gehörte nicht zu den Gästen des Hotels. Diese Sorte wohnt zum Glück noch nicht hier. Was hatte sie dann im Zimmer eines Mannes zu suchen, frage ich Sie? Widerlich ist das, jawohl. Ich habe mich bei der Lippincott beschwert, aber die ist nicht viel besser als der Rest. Die läuft eine Meile weit, wenn es um ein Mannsbild geht.«

Ein Anflug von Interesse erwachte in Poirot.

»Sie kam aus dem Zimmer eines Mannes?«, erkundigte er sich.

Die alte Dame spann nur zu gern ihr Lieblingsthema weiter.

»Aus dem Zimmer eines Mannes, jawohl. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Aus Nummer 5.«

»Wann war das, Madame? Ich meine, an welchem Tag?«

»Am Tag, bevor die Geschichte mit dem Mord hier das Unterste zuoberst kehrte. Ich begreife nicht, wie so etwas in einem anständigen Hotel geschehen kann.«

»Und um welche Tageszeit war es?«, forschte Poirot behutsam weiter.

»Tageszeit? Abend war es. Spät am Abend obendrein. Nach zehn Uhr. Ich bin meiner Sache ganz sicher, denn ich gehe jeden Abend um Viertel nach zehn zu Bett. Und an jenem Abend, gerade wie ich die Treppe hinaufgehe, kommt dieses Frauenzimmer aus Nummer 5 heraus, ohne sich im geringsten zu schämen. Starrt mich an, dreht sich dann um und unterhält sich mit dem Mann bei offener Tür.«

»Sie haben ihn gesehen oder sprechen gehört?«

»Gesehen nicht, aber gehört. ›Mach, dass du wegkommst, ich hab genug von dir.‹ Das hat er gesagt. Eine schöne Art, mit Frauen umzugehen, ist das, aber diese Sorte will ja nichts anderes.«

»Und Sie haben diese Beobachtung nicht der Polizei mitgeteilt?«, fragte Poirot mit leisem Vorwurf.

Ächzend erhob sich die alte Dame. Poirot mit einem stählernen Blick abgrundtiefer Verachtung bedenkend, sagte sie:

»Ich habe noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Ich und die Polizei!«

Zitternd vor Empörung, das Haupt stolz erhoben, verließ sie den Salon.

Poirot überließ sich ein Weilchen seinen Gedanken, bevor er sich aufmachte, um Beatrice Lippincott zu suchen.

»Sie meinen die alte Mrs Leadbetter«, antwortete sie auf seine Frage nach der alten Dame. »Sie kommt jedes Jahr her. Ganz unter uns: Sie ist eine Plage. Sie stößt die anderen Gäste manchmal schrecklich vor den Kopf mit ihrer rücksichtslosen Kritik. Und sie will einfach nicht einsehen, dass sich die Zeiten, und damit die Moden, geändert haben. Sie ist an die achtzig, da kann man natürlich auch nicht mehr viel Einsicht verlangen.«