»Aber sie ist noch bei klarem Verstand?«
»Klarer als einem manchmal lieb ist«, erwiderte Beatrice lachend.
»Wissen Sie, wer die junge Dame gewesen sein könnte, die den Ermordeten am Dienstagabend besucht hat?«
Beatrice sah ihn verständnislos an.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Mr Arden überhaupt Besuch von einer Dame bekommen hat. Wie sah sie aus?«
»Sie hatte einen orangefarbenen Turban um den Kopf geschlungen, trug Hosen und war ziemlich stark geschminkt, wenn ich recht unterrichtet bin. Sie muss am Dienstagabend um Viertel nach zehn bei Arden im Zimmer gewesen sein.«
»Ich habe wirklich keine Ahnung, Mr Poirot.«
Hercule Poirot machte sich auf den Weg zu Inspektor Spence, den er von der neuen Entdeckung unterrichtete.
»Cherchez la femme«, sagte Spence. »Immer das Gleiche.«
Er holte den Lippenstift hervor, der in Zimmer Nummer 5 gefunden worden war.
»Es sieht also doch so aus, als ob ein Außenseiter mit der Sache zu tun hat«, meinte er. »Dieser abendliche Besuch einer Frau schaltet David Hunter als Täter aus.«
»Wieso?«, erkundigte sich Poirot.
»Der junge Mann hat sich endlich bequemt, über seinen Aufenthalt am fraglichen Tag Rechenschaft abzulegen«, erwiderte Spence. »Hier ist sein Bericht.«
Er reichte Poirot ein Blatt Papier.
Verließ London um 4 Uhr 16 mit dem Zug nach Warmsley Heath, hieß es da. Ging über den Fußpfad nach Furrowbank.
Er sei noch mal hergekommen, um ein paar Sachen, die er in Furrowbank vergessen hatte, zu holen, warf der Inspektor erklärend ein. »Ein paar Briefe, sein Scheckbuch und etwas Wäsche.«
Verließ Furrowbank um 7 Uhr 52, bin dann spazieren gegangen, da ich den 7-Uhr-20-Zug verpasst hatte und der nächste Zug erst um 9 Uhr 20 ging.
»Welche Richtung schlug er bei seinem Spaziergang ein?«, fragte Poirot.
Der Inspektor zog seine Notizen zu Rate und beschrieb dann die von David Hunter angegebene Route.
»Als er oben am Hügelkamm entlangspazierte, kam ihm zu Bewusstsein, dass er sich nun beeilen müsse, wollte er den späten Zug nicht auch noch verfehlen. Er rannte zum Bahnhof, erwischte den Zug gerade noch und kam um 10 Uhr 45 in London an. Um elf Uhr war er in seiner Londoner Wohnung, was von Mrs Cloade bestätigt wird.«
»Und welche Bestätigung haben Sie für den Rest seiner Angaben?«
»Herzlich wenig. Rowley Cloade und einige andere sahen ihn in Warmsley Heath ankommen. Das Personal von Furrowbank hatte Ausgang. Er hatte natürlich seinen eigenen Schlüssel. Es sah ihn dort niemand, aber die Mädchen entdeckten später anscheinend einen Zigarettenstummel in der Bibliothek und fanden auch im Wäscheschrank eine unerklärliche Unordnung vor. Einer der Gärtner arbeitete noch spät im Garten und sah ihn von weitem. Und oben beim Wäldchen traf ihn Miss Marchmont, als er zum Bahnhof hinunterrannte.«
»Hat jemand ihn beim Einsteigen in den Zug gesehen?«
»Nein, aber er rief kurz nach seiner Ankunft in London von dort aus Miss Marchmont an. Um fünf Minuten nach elf.«
»Sie haben den Anruf kontrolliert?«
»Ja. Vier Minuten nach elf Uhr wurde Warmsley Vale Nummer 36 – das ist die Nummer der Marchmonts – von London aus verlangt.«
»Sehr interessant«, murmelte Poirot.
Spence hielt sich weiter an sein Notizbuch und ging methodisch alle Angaben durch.
»Rowley Cloade verließ Arden fünf Minuten vor neun. Zehn Minuten nach neun sieht Miss Marchmont David Hunter am Waldrand oben. Selbst wenn wir annehmen, dass er den ganzen Weg vom ›Hirschen‹ bis zum Waldrand hinauf gerannt ist, kann er nicht genügend Zeit gehabt haben, sich mit Arden zu streiten, ihn zu ermorden und dann noch zum Waldrand hinaufzulaufen. Aber abgesehen davon, stehen wir jetzt sowieso wieder am Anfang unserer Untersuchungen. Denn durch die Aussage der alten Dame wissen wir, dass Arden um zehn nach zehn noch am Leben war. Entweder wurde der Mord von der Frau mit dem orangenen Schal, die den Lippenstift verlor, begangen, oder es ist ein uns noch Unbekannter bei Arden eingedrungen, nachdem die Frau ihn verlassen hatte. Wer es auch gewesen sein mag, er hat jedenfalls die Zeiger der Armbanduhr absichtlich zurückgestellt auf zehn Minuten nach neun.«
»Eine Tatsache, die für David Hunter außerordentlich belastend geworden wäre, hätte er nicht das Glück gehabt, auf dem Weg zum Bahnhof Lynn Marchmont zu treffen. Andere Zeugen hätte er nicht gehabt«, warf Poirot ein.
»Woran denken Sie, Monsieur Poirot?«, fragte Spence, von seinen Notizen aufblickend.
»Eine Begegnung am Waldrand… später ein Telefonanruf… und Lynn Marchmont ist mit Rowley Cloade verlobt… Ich gäbe viel darum, wüsste ich, was in diesem Telefongespräch gesagt wurde.«
25
Obwohl es spät geworden war, beschloss Hercule Poirot, noch einen Besuch zu machen.
Er lenkte seine Schritte Jeremy Cloades Haus zu.
Das Mädchen führte ihn in das Arbeitszimmer des Hausherrn.
Allein gelassen, blickte Poirot sich um. Auf dem Schreibtisch stand ein großes Bild Gordon Cloades. Daneben befand sich eine bereits etwas verblasste Fotografie Lord Edward Trentons zu Pferde. Poirot studierte gerade Lord Trentons Gesichtszüge, als Jeremy Cloade das Zimmer betrat.
»Verzeihung.«
Poirot stellte das Bild zurück.
»Der Vater meiner Frau«, erklärte Jeremy Cloade, nicht ohne leisen Stolz in der Stimme. »Aber womit kann ich Ihnen dienen?«
Er deutete auf einen Sessel, und Poirot nahm Platz.
»Ich wollte Sie fragen, Mr Cloade, ob Sie ganz sicher sind, dass Ihr Bruder kein Testament hinterlassen hat?«
»Ich halte es für ausgeschlossen, Monsieur Poirot. Man hat nichts gefunden. Gordon pflegte alle wichtigen Papiere in seinem Büro aufzubewahren, und dort ist alles genau untersucht worden. Das Wohnhaus selbst ist ja beinahe ganz zerstört worden beim Angriff.«
»Aber es könnte immerhin möglich sein, dass sich in den Trümmern noch etwas findet. Man sollte Nachforschungen anstellen. Ich würde es begrüßen, wenn Sie mich ermächtigten, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, Mr Cloade.«
»Natürlich, natürlich«, beeilte sich Jeremy* Cloade zu versichern. »Sehr freundlich von Ihnen, sich dieser Aufgabe unterziehen zu wollen. Nur fürchte ich, Ihre Mühe wird von keinem Erfolg gekrönt sein. Aber immerhin… Sie beabsichtigen also, nach London zurückzukehren?«
Poirots Lider senkten sich über die Augen, bis diese nur noch schmale Schlitze waren. Ein sonderbarer Eifer hatte in Jeremy Cloades Stimme mitgeschwungen. Schon während einer kurzen Unterhaltung mit Rowley Cloade war ihm aufgefallen, dass es der Familie Cloade anscheinend nicht recht war, dass er, Poirot, sich noch immer in Warmsley Vale aufhielt. Sie hatten ihn gerufen, doch jetzt wünschten sie ihn offensichtlich so schnell wie möglich wieder weg. Was steckte dahinter?
Bevor er auf Jeremys Frage antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Frances Cloade trat ein.
Zwei Dinge fielen Poirot sofort auf. Erstens, dass Frances Cloade schlecht aussah, und zweitens, dass sie ihrem Vater sehr ähnelte.
»Monsieur Poirot stattet uns einen Besuch ab, meine Liebe«, teilte Jeremy Cloade völlig überflüssigerweise mit.
Er berichtete seiner Frau von Poirots Plan, in London nach einem eventuell doch vorhandenen Testament zu forschen.
»Ich halte jede Suche für aussichtslos«, meinte Frances.
»Wenn ich recht unterrichtet bin, war Major Porter dem Luftschutz in dieser Gegend Londons zugeteilt«, warf Poirot ein.
Ein sonderbarer Ausdruck trat in Mrs Cloades Augen.