Es lief alles gut. Besser, als wir gehofft hatten. David kroch ihm auf den Leim. Charles gab sich natürlich nicht direkt als Robert Underhay aus. Rosaleen hätte ihn ja jeden Moment entlarven können. Aber als sie zu unserem Glück nach London fuhr, wagte Charles es, ein bisschen deutlicher zu werden und die Möglichkeit anzudeuten, er sei vielleicht selbst Robert Underhay. Wie gesagt: David ging auf die Erpressung ein. Er versprach, am Dienstagabend mit dem Geld zu kommen. Stattdessen…«
Ihre Stimme brach zitternd ab.
»Wir hätten uns klarmachen müssen, dass David ein gefährlicher Mensch ist. Hätte ich nicht diese unglückselige Idee gehabt, wäre Charles noch am Leben. Nun ist er tot… ermordet, und ich bin schuld.«
»Immerhin packten Sie eine weitere Gelegenheit beim Schopf, die Komödie bis zum Ende zu führen. Sie überredeten Major Porter, Ihren Vetter als Robert Underhay zu ›erkennen‹.«
Frances fuhr heftig auf.
»Ich schwöre Ihnen, damit habe ich nichts zu tun. Niemand war erstaunter als ich… was heißt: erstaunter! Aus allen Wolken fielen wir, als Major Porter öffentlich erklärte, Charles – mein Vetter Charles! – sei Robert Underhay. Ich begriff es einfach nicht. Ich begreife es immer noch nicht.«
»Aber jemand muss Major Porter aufgesucht und überredet haben. Jemand hat ihn bestochen, den Toten als Robert Underhay zu identifizieren. Wissen Sie übrigens, dass Major Porter sich heute Nachmittag erschossen hat?«
»Nein!« Frances fuhr zurück, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen. »Nein! O Gott!«
»Leider ist es so, Madame. Major Porter war im Grunde ein anständiger Mensch. Er befand sich in finanziellen Schwierigkeiten, und als die Versuchung an ihn herantrat, war er, wie so viele, zu schwach, ihr zu widerstehen. Wie wenig wohl er sich bei seiner Aussage vor Gericht fühlte, war ihm anzumerken. So weit hatte er sich bringen lassen. Doch nun sah die Situation anders aus. Ein Mensch war des Mordes angeklagt. Und von seiner Aussage über die Identität des Ermordeten hing vielleicht das Schicksal des Angeklagten ab.
Er kehrte heim in seine Wohnung und schlug den Ausweg ein, der ihm als einziger möglich schien.«
Frances erhob sich und trat ans Fenster.
»Da stehen wir also wieder am Anfang«, meinte sie langsam.
28
Inspektor Spence wiederholte am folgenden Morgen beinahe wörtlich Frances Cloades Ausspruch:
»Da wären wir also wieder da, wo wir angefangen haben. Wir müssen herausfinden, wer dieser Enoch Arden in Wirklichkeit war.«
»Das kann ich Ihnen sagen, Inspektor«, meinte Poirot. »Sein richtiger Name war Charles Trenton.«
Der Inspektor blickte überrascht auf.
»Trenton? Einer von den Trentons? Warten Sie…«
Er dachte angestrengt nach und schien in seiner Erinnerung zu kramen.
»Ja, Charles Trenton. Er hatte allerhand auf dem Kerbholz. Zechpreller und Schuldenmacher.«
»Wie steht es mit Ihrer Anklage gegen David Hunter?«, erkundigte sich Poirot.
»Wir werden ihn wohl laufen lassen müssen«, bekannte der Inspektor. »Es ist erwiesen, dass eine Frau nach zehn Uhr bei Arden war. Wir haben nicht nur die Aussage dieses alten Drachens im ›Hirschen‹, wir haben die Bestätigung von Jimmy Pierce. Er hatte im ›Hirschen‹ ein paar Gläser getrunken und machte sich kurz nach zehn Uhr auf den Heimweg. Er hatte eine Frau aus dem ›Hirschen‹ kommen und zur Telefonzelle gegenüber gehen sehen. Es sei niemand gewesen, den er kannte, sagte er, vermutlich ein Hotelgast, habe er sich gedacht. Ein Frauenzimmer sei es gewesen, das waren seine Worte.«
»Sah er sie aus der Nähe?«
»Er stand auf der anderen Straßenseite«, gab der Inspektor Auskunft. »Wer zum Teufel war diese Frau, Monsieur Poirot?«
»Konnte dieser Jimmy Pierce etwas über die Kleidung der Fremden aussagen?«
»Ja, seine Schilderung deckt sich mit der der alten Dame. Stark geschminkt, einen orangenen Schal um den Kopf und lange Hosen.«
Ein Weilchen herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Hercule Poirot unterbrach es als erster.
»Es gibt noch mehr ungelöste Fragen in diesem Fall«, sagte er bedächtig. »Wieso lässt David Hunter sich so leicht erpressen? Es entspricht nicht seinem Charakter, gleich die Flinte ins Korn zu werfen. Dann haben wir da Rosaleen Cloade, deren Benehmen völlig unverständlich ist. Wovor hat sie solche Angst? Wieso befürchtet sie, sie sei in Gefahr, jetzt, wo ihr Bruder sie nicht mehr beschützen kann? Irgendetwas muss ihr diese Furcht eingeflößt haben. Sie zittert nicht um das Vermögen Gordon Cloades, nein, sie zittert um ihr Leben.«
»Lieber Himmel, Monsieur Poirot, Sie denken doch nicht etwa, dass – «
»Erinnern wir uns an das, was Sie eben selbst gesagt haben, Inspektor«, mahnte Poirot. »Wir stehen wieder da, wo wir angefangen haben. Genauer gesagt, die Cloades stehen wieder da, wo sie angefangen haben. Robert Underhay starb in Afrika. Und zwischen Gordon Cloades großem Vermögen und den lachenden Erben steht Rosaleen Cloade.«
29
Gemächlich spazierte Hercule Poirot die Hauptstraße entlang, doch strebte er nicht dem »Hirschen«, zu, sondern lenkte seine Schritte dem weißen Haus zu, in dem Lynn Marchmont wohnte.
Es war ein herrlicher Tag, ein sommerlicher Frühlingsmorgen mit jener Frische, die dem Hochsommermorgen fehlt.
Poirot bog in den Pfad ein, der zu Mrs Marchmonts Haus führte. In einem Liegestuhl unter dem mächtigen Apfelbaum im Garten lag Lynn Marchmont.
Sie sprang erschrocken auf, als sie eine höfliche Stimme neben sich »guten Morgen«, sagen hörte.
»Oh, haben Sie mich erschreckt, Monsieur Poirot. Sie sind also noch immer hier?«
»Ich bin noch immer hier – allerdings.«
»Bedeutet dies, dass Sie mit dem Gang der Dinge nicht zufrieden sind?«, fragte Lynn mit hoffnungsfroher Stimme. »Ich meine, nicht zufrieden damit, dass man David eingesperrt hat?«
»Sie wünschen sich sehr, dass er unschuldig sein möge, nicht wahr?«
Hercule Poirots Stimme klang sanft.
»Ich will nur nicht, dass ein Unschuldiger gehängt wird«, wehrte Lynn ab. »Aber die Polizei ist voreingenommen. Weil er sich trotzig gebärdet, halten sie ihn für schuldig.«
»Sie tun der Polizei unrecht. Die Geschworenen fällten das Urteiclass="underline" schuldig, also musste die Polizei David Hunter in Haft nehmen. Aber ich kann Ihnen verraten, dass sie weit davon entfernt sind, sich mit der Lage abzufinden.«
»Sie lassen ihn vielleicht frei?«
Poirot zuckte vielsagend die Achseln.
»Wen verdächtigt man denn, Monsieur Poirot?«
»Man hat eine Frau in der betreffenden Nacht am Tatort gesehen.«
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, rief Lynn aus. »Als wir glaubten, der Fremde sei Robert Underhay, schien alles so einfach. Warum hat dieser Major Porter denn behauptet, er sei Underhay, wenn er es gar nicht war? Und warum hat er sich erschossen? Wir sind wieder da, wo wir angefangen haben.«
»Sie sind jetzt schon der dritte Mensch, der das sagt«, stellte Poirot fest.
»Ja?« Sie schaute fragend zu dem Detektiv auf. »Was gedenken Sie zu tun, Monsieur Poirot?«
»Ich gedenke, nach Furrowbank hinaufzugehen, und ich möchte Sie auffordern, mich zu begleiten«, erwiderte Poirot, obwohl er sehr gut verstand, dass Lynn ihre Frage anders gemeint hatte.