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»Nach Furrowbank? Ich war gestern oben und habe Rosaleen gefragt, ob ich ihr in irgendeiner Beziehung behilflich sein könnte. Sie hat mich angesehen und gesagt: ›Sie! Ausgerechnet Sie!‹ Ich glaube, sie hasst mich.«

»Zeigen Sie sich großmütig und verständnisvoll«, erwiderte Poirot. »Rosaleen Cloade tut mir Leid. Ich würde ihr gern helfen. Selbst jetzt noch, wenn sie auf mich hören wollte – «

Mit einem plötzlichen Entschluss richtete er sich auf.

»Kommen Sie, Mademoiselle, gehen wir nach Furrowbank.« 

30

Das Dienstmädchen empfing sie mit der Mitteilung, dass Madame noch nicht aufgestanden sei und sie nicht wisse, ob sie die Herrschaften zu empfangen wünsche.

Poirot blickte sich in dem Salon um. Er war teuer und gut eingerichtet, doch fehlte dem Raum jegliche persönliche Note.

Rosaleen Cloade hatte offensichtlich in Furrowbank gewohnt, wie ein Fremder in einem guten Hotel wohnt.

»Ob wohl auch die andere – «, murmelte Poirot, aber er vollendete den Satz nicht.

Das Mädchen kam ins Zimmer gerannt, Entsetzen in den Augen, und rief: »O Miss Marchmont, Madame liegt oben… es ist schrecklich… sie rührt sich nicht, und ich kann sie nicht wachkriegen, und ihre Hände sind so kalt.«

Ohne eine Sekunde zu verlieren, lief Poirot die Treppe hinauf. Lynn und das Mädchen folgten. Oben deutete das Mädchen auf eine der Türen.

Es war ein prachtvoll ausgestattetes Zimmer. Die Sonne schien hell durch die weit offenen Fenster herein und überglänzte die kostbaren pastellfarbenen Teppiche.

In dem großen geschnitzten Bett lag Rosaleen Cloade. Die langen Wimpern hoben sich von den blassen Wangen ab. Sie hielt ein zerknülltes Taschentuch in der Hand und sah aus wie ein trauriges Kind, das sich in den Schlaf geweint hat.

Poirot fühlte ihren Puls. Er sah seine Befürchtungen bestätigt.

»Sie muss im Schlaf gestorben sein«, sagte er leise zu Lynn. »Es scheint schon einige Zeit her zu sein.«

»Was sollen wir nur tun? Was sollen wir nur tun?«, jammerte das Mädchen.

»Wer war ihr Arzt?«, erkundigte sich Poirot kurz.

»Onkel Lionel«, antwortete Lynn.

»Rufen Sie Dr. Cloade an«, befahl er dem schluchzenden Mädchen, das sofort das Schlafzimmer verließ, um seine Anordnung auszuführen.

Poirot sah sich um. Auf dem Nachttisch lag eine weiße Schachtel mit der Aufschrift: »Allabendlich vor dem Schlafengehen ein Pulver.« Seine Hand vorsichtig mit seinem Taschentuch umwickelt, öffnete er das Schächtelchen. Drei Pulver waren übrig geblieben. Poirot wandte sich dem Schreibtisch zu. Der davor stehende Stuhl war beiseite geschoben, auf der Platte lag ein Bogen Papier, auf dem mit ungeschickter, kindlicher Hand geschrieben stand:

»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann nicht mehr weiter. Ich bin schlecht. Ich muss mich einer Menschenseele anvertrauen, sonst komme ich nie mehr zur Ruhe. Ich wollte nichts Schlechtes tun. Ich habe nicht gewusst, dass es so werden wird. Ich muss es niederschreiben – «

Doch weiter war die Schreiberin nicht gekommen. Die Feder lag noch neben dem Papier, achtlos hingeworfen.

Lynn stand neben dem Bett, als die Tür aufgerissen wurde und David Hunter, atemlos vom schnellen Laufen, ins Zimmer stürzte.

»David! Hat man dich freigelassen? Ich bin so froh – «

Er beachtete sie überhaupt nicht, sondern eilte an ihr vorüber zum Bett.

»Rosa! Rosaleen!«

Er berührte die kalte Hand. Dann fuhr er wie ein Wahnsinniger herum und sprühte Lynn aus wutblitzenden Augen an.

»Habt ihr sie ermordet, ja? Habt ihr sie aus dem Weg geschafft? Mich hat man mit einer hinterlistigen, erlogenen Anklage ins Gefängnis gesteckt, um freies Spiel zu haben, und dann habt ihr euch verschworen und Rosaleen ermordet. Mörder!«

»Nein, David!«, rief Lynn zitternd. »Wie kannst du das denken. Keiner von uns würde so etwas tun. Niemals.«

»Einer von euch hat sie ermordet, Lynn Marchmont«, fuhr David sie kalt an. »Und du weißt es so genau, wie ich es weiß.«

»Bevor sie sich letzte Nacht zu Bett begab, schrieb sie dies hier«, mischte sich Poirot ruhigen Tones ein und deutete auf den Schreibtisch.

David wandte sich sofort dem Briefbogen zu, aber Poirot warnte ihn noch rechtzeitig, das Papier nicht zu berühren. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, las David die wenigen Zeilen.

»Und wollen Sie vielleicht behaupten, sie hätte Selbstmord begangen?«, rief er. »Weshalb hätte Rosaleen Selbstmord begehen sollen?«

Die Stimme, die die Frage beantwortete, gehörte nicht Poirot, sondern – Inspektor Spence.

Der Inspektor stand auf der Schwelle.

»Angenommen, Mrs Cloade war letzten Dienstag nicht in London, sondern in Warmsley Vale? Angenommen, sie suchte den Mann auf, der versucht hatte, sie zu erpressen? Angenommen, sie ermordete ihn in einem Anfall hysterischer Wut?«

»Meine Schwester war letzten Dienstag in London«, entgegnete David heftig. »Sie befand sich in unserer dortigen Wohnung, als ich um elf Uhr heimkam.«

»Das behaupten Sie, Mr Hunter«, sagte Spence. »Und ich nehme an, dass Sie an dieser Geschichte festhalten werden. Aber niemand kann mich zwingen, sie zu glauben. Abgesehen davon« – er deutete auf das Bett –, »ist es zu spät. Der Fall wird nie vor Gericht kommen.« 

31

»Er will es nicht zugeben«, sagte Inspektor Spence, »aber ich glaube, er weiß, dass sie den Mord begangen hat.« Er blickte über seinen Schreibtisch hinweg Poirot an, der ihm gegenübersaß.

»Es ist doch merkwürdig, wie wir immer an seinem Alibi herumrätselten und nie auf den Gedanken kamen, einmal Rosaleen Cloades Angaben zu überprüfen. Dabei haben wir nur David Hunters Aussage, dass seine Schwester sich wirklich am Dienstagabend in ihrer Londoner Wohnung befand. Über sie selbst habe ich mir nie den Kopf zerbrochen. Sie war so ein unbedeutendes Persönchen, wirkte fast ein wenig beschränkt, aber darin liegt wahrscheinlich die Erklärung.«

Poirot verhielt sich still. Der Inspektor fuhr fort:

»Sie muss Arden in einem Anfall hysterischer Wut erschlagen haben. Er vermutete keine Gefahr bei ihrem Besuch. Wie sollte er auch! Aber etwas will mir nicht in den Kopf. Wer hat Major Porter bestochen, eine falsche Aussage zu machen?«

»Ich hätte es wissen müssen. Major Porter selbst hat es mir gesagt«, entgegnete Hercule Poirot.

»Er selbst hat es Ihnen gesagt?«

»Nicht direkt natürlich. Eine Bemerkung von ihm verriet es. Er war sich dessen gar nicht bewusst.«

»Und wer war es?«, fragte Spence ungeduldig.

Poirot neigte seinen Kopf etwas zur Seite und sah schräg zu dem Inspektor auf.

»Darf ich Ihnen zwei Fragen stellen, bevor ich Ihnen die gewünschte Antwort gebe?«

»Fragen Sie, was Sie wollen.«

»Diese, die wir auf dem Nachttisch neben Rosaleen Cloades Bett fanden; was war es?«

»Die Schlafpulver? Ganz harmloses Zeug. Ein Brompräparat. Sie nahm jede Nacht ein Beutelchen. Es beruhigt die Nerven.«

»Wer hat sie ihr verschrieben?«

»Dr. Cloade, schon vor einiger Zeit.«

»Und hat man den Befund über die Todesursache bereits?«

»Morphium«, erwiderte Spence.

»Und nun kommt meine zweite Frage«, fuhr Hercule Poirot fort. »Sie haben die Telefongespräche nachgeprüft, nicht wahr? Aus dem Appartementhaus, in dem Hunter und seine Schwester in London lebten, wurde Dienstag nacht um elf Uhr ein Gespräch für Lynn Marchmont durchgegeben. Wurde die Londoner Wohnung ebenfalls angerufen?«

»Ja, um zehn Uhr fünfzehn. Der Anruf kam aus Warmsley Vale aus einer öffentlichen Telefonzelle.«