Sämtliche Einwohner von Warmsley Vale sind sich einig in ihrer Verachtung für das pilzgleiche Aufschießen Warmsley Heaths.
Am Rand des Ortes stehen einige hübsche Häuschen mit verträumten alten Gärten, und in eines dieser Häuschen kehrte Lynn Marchmont zurück, als sie im Frühjahr 1946 aus dem Frauenhilfsdienst entlassen wurde.
Am dritten Morgen nach ihrer Heimkehr stand sie am Fenster ihres Schlafzimmers und atmete in vollen Zügen die frische, nach Erde und feuchten Wiesen riechende Luft ein. Zweieinhalb Jahre hatte sie diesen Geruch vermisst.
Herrlich war es, wieder daheim zu sein, herrlich, wieder in dem geliebten eigenen Zimmer zu stehen, nach dem sie sich so oft gesehnt hatte in diesen vergangenen Jahren, die sie jenseits des Ozeans verbracht hatte, und herrlich, statt in die Uniform wieder in Rock und Bluse schlüpfen zu können, selbst wenn die Motten sich während der Kriegsjahre über Gebühr daran gütlich getan hatten.
Es tat gut, wieder ein freies Wesen zu sein, obwohl Lynn gern Dienst getan hatte. Die Arbeit war interessant gewesen, auch an Abwechslung und Vergnügen hatte es nicht gefehlt, aber das Gefühl, ständig mit anderen Menschen zusammengepfercht zu, sein, hatte doch von Zeit zu Zeit das verzweifelte Verlangen in ihr geweckt, auszureißen, um endlich einmal allein sein zu können.
Und wenn diese Sehnsucht sie packte, stand plötzlich Warmsley Vale mit dem anspruchslosen Haus vor ihrem inneren Auge und natürlich auch die liebe gute Mama.
Lynns Verhältnis zu ihrer Mutter war eigenartig. Sie liebte sie und fühlte sich gleichzeitig verwirrt und manchmal peinlich berührt durch Mrs Marchmonts Art. Aber fern von daheim hatte sich dieser Eindruck verwischt oder nur dazu beigetragen, die Sehnsucht nach zu Hause zu verstärken. Ach, was hätte sie darum gegeben, hätte sie dort draußen im Fernen Osten nur einmal Mamas liebe, stets etwas klagend klingende Stimme eine ihrer ewig wiederholten Redensarten sagen hören!
Und nun war sie daheim, schon drei Tage. Es gab keinen Dienst mehr, sie konnte sich als freier Mensch fühlen, und doch begann bereits eine seltsame Ungeduld Besitz von ihr zu ergreifen. Es war genau wie früher – viel zu genau wie früher –, das Haus und die Mama und Rowley und die Farm und die Familie. Was sich geändert hatte und eben nie hätte ändern dürfen, das war sie selbst.
»Lynn…« Mrs Marchmonts dünnes Stimmchen drang von unten herauf. »Soll ich meinem Töchterchen das Frühstück vielleicht ans Bett bringen?«
»Aber nein, ich komme selbstverständlich runter!«, rief Lynn mit mühsam unterdrückter Ungeduld zurück.
Warum sie nur immer von mir als ihrem Töchterchen redet, dachte sie ärgerlich. Es klingt so albern.
Sie ging hinunter und betrat das Speisezimmer.
Es gab kein besonders gutes Frühstück. Aber das erbitterte Lynn weniger als die Feststellung, wie viel Kraft und Zeit in ihrem Elternhaus auf die Nahrungsbeschaffung verschwendet wurde. Abgesehen von einer wenig zuverlässigen Frau, die viermal wöchentlich einen halben Tag helfen kam, quälte sich Mrs Marchmont allein mit dem Haushalt ab. Sie war beinahe vierzig Jahre alt gewesen, als Lynn geboren wurde, und um ihre Gesundheit war es nicht allzu gut bestellt. Es kam Lynn mit zunehmendem Unbehagen zu Bewusstsein, wie sehr sich auch die finanzielle Lage daheim geändert hatte. Das nie besonders hohe, aber absolut ausreichende Einkommen, das ihnen vor dem Krieg gestattet hatte, ein angenehm sorgloses Leben zu führen, wurde durch die Steuern beinahe um die Hälfte geschmälert. Die Ausgaben aber waren alle gestiegen.
Schön sieht es aus in der Welt, dachte Lynn grimmig. Sie überflog die Stellengesuche in der Zeitung. »Demobilisierter Soldat sucht Posten, der Initiative und Fahrausweis verlangt.« – »Ehemalige Frauenhilfsdienstlerin sucht Anstellung, wo ihr ausgeprägtes Organisationstalent und die Fähigkeit, Aufsicht zu führen, von Nutzen sein könnten.«
Unternehmungslust, Organisationstalent, Initiative – das wurde angeboten. Doch was wurde verlangt? Frauen, die kochen und putzen konnten oder geübte Stenotypistinnen waren.
Nun, sie brauchte sich in dieser Beziehung keine grauen Haare wachsen zu lassen. Ihr Weg lag klar vor ihr. Sie würde ihren Vetter Rowley Cloade heiraten. Vor sieben Jahren, kurz vor Ausbruch des Krieges, hatten sie sich verlobt. Solange sie zurückdenken konnte, war es selbstverständlich gewesen, dass sie eines Tages Rowley heiraten würde. Seine Liebe zum Landleben und der Arbeit auf einer Farm hatte sie stets geteilt. Ein gutes Leben lag vor ihnen, kein sehr abenteuerliches oder aufregendes Leben, sondern Tage erfüllt von harter Arbeit, aber sie liebten beide die Natur und den Duft der Wälder und Wiesen sowie die Pflege der Tiere.
Ihre Aussichten waren allerdings nicht mehr so rosig wie früher einmal. Onkel Gordon hatte stets versprochen gehabt Mrs Marchmont unterbrach Lynns Gedankengang.
»Es war ein schrecklicher Schlag für uns, Lynn, wie ich dir ja schon geschrieben habe. Gordon war gerade zwei Tage in England. Wir hatten ihn noch nicht einmal gesehen. Wenn er nur nicht in London geblieben, sondern geradewegs hierher gekommen wäre!«
»Ja, wenn…«
Als Lynn fern von daheim die Nachricht vom Tod ihres Onkels erreichte, hatte sie Kummer und Entsetzen bei ihr ausgelöst. Welche Folgen für sie alle jedoch mit dem Ableben Gordon Cloades verbunden waren, begann ihr erst jetzt klar zu werden.
Solange sie sich erinnern konnte, hatte Gordon Cloade in ihrem Leben – und auch im Leben der anderen Familienmitglieder – eine hervorragende Rolle gespielt. Der wohlhabende, reiche Mann hatte sich stets seiner gesamten Verwandtschaft angenommen und bestimmend in ihr Schicksal eingegriffen.
Selbst Rowley bildete da keine Ausnahme. Er hatte mit seinem Freund Johnnie Vavasour zusammen eine Farm übernommen, und Gordon, der selbstverständlich um Rat gefragt worden war, hatte der Übernahme zugestimmt.
Lynn gegenüber hatte er sich deutlicher geäußert.
»Um eine Farm rentabel zu bewirtschaften, braucht man Kapital, aber ich möchte erst einmal sehen, ob die beiden jungen Männer wirklich das Zeug dazu haben, tüchtige Farmer zu werden. Würde ich ihnen jetzt Geld zuschießen, wäre es ein Leichtes für sie, aber ich könnte nie beurteilen, wie weit ihre eigene Leistungsfähigkeit und ihr Durchhaltevermögen gehen. Lasse ich sie jetzt aber ihre Probleme allein durchkämpfen, und ich sehe nach einer gewissen Zeit, dass es ihnen ernst ist und dass sie gewillt sind, ihre ganze Kraft einzusetzen, dann brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Lynn, dann werde ich ihnen mit dem nötigen Kapital unter die Arme greifen. Hab keine Angst vor der Zukunft, Mädchen. Du bist die richtige Frau für Rowley, das weiß ich. Aber behalte das, was ich dir eben gesagt habe, für dich.«
Sie hatte Wort gehalten und keine Silbe von dem Gespräch verlauten lassen, doch Rowley hatte ohnehin das wohl wollende Interesse gespürt, das der Onkel seinem Unternehmen entgegenbrachte. Es war an ihm, dem alten Herrn zu beweisen, dass Johnnie Vavasour und er selbst es wert waren, in ihrem Bestreben unterstützt zu werden.
Und so waren sie alle mehr oder weniger von Gordon Cloade abhängig gewesen. Nicht, dass sie sich etwa darauf verlassen und die Hände in den Schoß gelegt hätten. Jeremy Cloade war Seniorpartner in einem Anwaltsbüro, Lionel Cloade praktizierte als Arzt.
Aber das beruhigende Gefühl, dass es Gordon Cloade und sein Geld gab, verlieh doch Sicherheit. Es bestand kein Grund, besonders zu geizen oder zu sparen. Die Zukunft war gesichert; Gordon Cloade, der kinderlose Witwer, würde sich im Notfall ihrer aller annehmen. Mehr als einmal hatte er ihnen das versichert.