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Gordons verwitwete Schwester, Adela Marchmont, blieb in dem geräumigen weißen Haus wohnen, als es ratsamer gewesen wäre, ein kleineres, nicht so viel Arbeit verursachendes Haus zu beziehen. Lynn besuchte die besten Schulen, und wäre der Krieg nicht dazwischengekommen, hätte es ihr freigestanden, sich, unbekümmert um die Ausbildungskosten, einen ihr zusagenden Beruf zu wählen. Onkel Gordons Schecks trafen mit angenehmer Regelmäßigkeit ein und gestatteten mancherlei Luxus.

Alles lief in wunderbar ruhigem, sicherem Fahrwasser, bis plötzlich, aus heiterem Himmel, die Nachricht von Gordon Cloades Heirat kam.

»Wir waren alle wie vor den Kopf gestoßen«, gestand Adela. »Dass Gordon noch mal heiraten könnte, war das Letzte, das einer von uns vermutet hätte. Über Mangel an Familie konnte er sich doch weiß Gott nicht beklagen.«

O nein, dachte Lynn, Mangel an Familie sicher nicht, vielleicht aber zu viel.

»Er war immer so reizend«, fuhr Mrs Marchmont fort. »Obwohl er sich manchmal ein klein wenig tyrannisch gebärdete. Dass wir keine Tischtücher benutzen, konnte er, zum Beispiel, gar nicht leiden. Er bestand darauf, dass ich mich an die altmodische Sitte vorschriftsmäßig gedeckter Tische hielt. Aus Italien brachte er mir die herrlichsten venezianischen Spitzendecken mit.«

»Es zahlte sich jedenfalls aus, ihm nachzugeben«, entgegnete Lynn trocken. »Wie hat er eigentlich seine zweite Frau kennen gelernt? Darüber hast du mir nie etwas geschrieben.«

»Ach, an Bord irgendeines Schiffs oder Flugzeugs auf einer seiner Reisen von Südamerika nach New York, glaube ich. Unvorstellbar, nach all den Jahren und nach den unzähligen Sekretärinnen und Stenotypistinnen und Haushälterinnen, die er hatte.«

Lynn musste unwillkürlich lächeln. Die Sekretärinnen und Hausangestellten Onkel Gordons waren von Seiten der Verwandtschaft von jeher mit äußerstem Argwohn betrachtet worden.

»Sie wird sehr hübsch sein, nehme ich an«, sagte sie.

»Ehrlich gestanden, meine Liebe, finde ich ihr Gesicht eher ausdruckslos. Ein bisschen dümmlich.«

»Du bist eben kein Mann, Mama.«

»Man muss natürlich in Erwägung ziehen, dass das arme Ding einen Bombenangriff hinter sich hat und wirklich schrecklich krank war infolge der furchtbaren Erlebnisse. Meiner Meinung nach hat sie sich von ihrer Krankheit nie richtig erholt. Ein Nervenbündel ist sie, und zeitweise wirkt sie direkt wie geistig zurückgeblieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Gordon eine seinen geistigen Interessen gewachsene Person gewesen ist.«

Lynn bezweifelte, dass sich ihr Onkel eine um so viel jüngere Frau genommen hatte, um eine seinen geistigen Ansprüchen gewachsene Partnerin neben sich zu wissen.

»Und dann kommt hinzu – aber es ist mir schrecklich peinlich, das aussprechen zu müssen –, dass sie keine Dame ist.«

»Wie altmodisch, Mama! Was hat das heute noch zu sagen?«

»Auf dem Lande ist man noch altmodisch, Lynn. Und ich meine damit, dass sie eben einfach nicht in unsere Kreise passt.«

»Die Arme!«

»Ich verstehe nicht, was du damit ausdrücken willst«, erwiderte Mrs Marchmont gekränkt. »Wir haben uns alle sehr zusammengenommen und bemüht, höflich und freundlich zu ihr zu sein. Schon Gordon zuliebe.«

»Sie wohnt in Furrowbank?«, erkundigte sich Lynn.

»Natürlich. Wo sollte sie sonst wohnen? Die Ärzte sagten, als sie aus der Klinik entlassen wurde, sie müsste von London weg. Also lag es doch nahe, nach Furrowbank zu ziehen. Sie lebt dort mit ihrem Bruder.«

»Was ist das für ein Mensch?«

»Ein schrecklicher junger Mann«, erwiderte Mrs Marchmont und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Ein völlig ungehobelter Geselle.«

In Lynn flackerte Sympathie für die junge Frau und ihren unerwünschten Bruder auf. Ich wäre an seiner Stelle sicher auch ungehobelt, ging es ihr durch den Kopf.

»Wie heißt er denn?«

»Hunter. David Hunter«, gab die Mutter Auskunft. »Es scheinen Iren zu sein. Natürlich keine Familie, von der man jemals gehört hat. Sie war verwitwet und hieß Mrs Underhay. Es liegt mir nichts ferner, als hartherzig zu sein, aber man muss sich doch fragen, was für eine sonderbare Witwe das ist, die mitten im Krieg von Südamerika dahergereist kommt. Unwillkürlich folgert man daraus, dass sie herumreiste, um sich einen reichen Gatten einzufangen.«

»Was ihr – wenn du Recht haben solltest – ja auch gelungen ist«, bemerkte Lynn.

Mrs Marchmont seufzte.

»Dabei war Gordon stets so auf der Hut. Nicht, als ob die Frauen nicht stets hinter ihm her gewesen wären. Erinnerst du dich noch an diese letzte Sekretärin? Mein Gott, wie hat sich das Mädchen an ihn gehängt. Sie war sehr tüchtig, aber er musste sie sich vom Hals schaffen.«

»Vermutlich gibt es früher oder später immer ein Waterloo.«

»Zweiundsechzig ist eben ein gefährliches Alter«, fuhr Mrs Marchmont fort. »Und in Kriegszeiten, scheint mir, ist alles besonders schwierig vorauszusehen. Ich kann dir nicht schildern, welche Aufregung sein Brief aus New York bei uns auslöste.«

»Was hat er denn eigentlich geschrieben?«

»Der Brief war an Frances adressiert. Ich denke, weil Gordon für Frances’ Erziehung gesorgt hatte, hielt er sie für am ehesten verständnisbereit. Er schrieb, wir würden sicher alle sehr überrascht sein, dass er sich so plötzlich wieder verheiratet habe, aber er sei sicher, dass wir sehr bald Rosaleen – was für ein verrückter Name, findest du nicht? So theatralisch! –, also dass wir sie bald lieb gewinnen würden. Sie hätte ein schweres Leben gehabt und trotz ihrer Jugend schon viel Bitteres erleben müssen, und es sei bewunderungswürdig, wie sie sich allen Schicksalsschlägen zum Trotz bisher im Leben behauptet habe. Und Gordon fuhr fort, wir sollten ja nicht annehmen, dass dies in seinen Beziehungen zur Familie die geringste Lockerung bedeute. Nach wie vor fühle er sich für unser aller Wohlergehen verantwortlich.«

»Aber er verfasste nach seiner Heirat kein Testament?«, fragte Lynn.

»Nein.« Mrs Marchmont schüttelte den Kopf. »Das letzte Testament, von dem wir wissen, stammt aus dem Jahr 1940. Die Einzelheiten sind mir unbekannt, aber er sagte uns damals, wir sollten uns keine Gedanken machen, es wäre für uns alle gesorgt, falls ihm etwas zustieße. Durch seine Heirat ist dieses Testament natürlich gegenstandslos geworden. Ich bin überzeugt davon, dass es seine Absicht war, ein neues aufzusetzen nach seiner Heimkehr. Aber es kam nicht mehr dazu. Er starb am Tag nach seiner Ankunft.«

»Und jetzt fällt alles Rosaleen in den Schoß?«

»Ja, weil das alte Testament durch die Heirat ungültig geworden ist.«

Lynn versank in Schweigen. Sie war kein besonders materiell eingestellter Mensch, dass ihr aber diese unerwartete Veränderung der Situation zu denken gab, war schließlich nur menschlich.

Die Entwicklung der Dinge entsprach sicher nicht Gordon Cloades Plänen. Den Löwenanteil seines Vermögens hätte er vermutlich seiner jungen Frau vermacht, aber seine Familie wäre nicht leer ausgegangen, besonders nachdem er immer und immer wieder versichert hatte, dass für alle gesorgt sei. Es bestehe kein Anlass für sie zu sparen, hatte er stets wiederholt, und sie selbst war Zeuge gewesen, wie er zu Jeremy sagte: »Wenn ich sterbe, wirst du reich sein.« Und Lynns Mutter hatte er geraten: »Bleib in eurem Haus. Es ist dein Heim. Wegen Lynn mach dir keine Gedanken. Ich übernehme die Verantwortung für sie, das weißt du. Es wäre mir schrecklich, würdest du aus Sparsamkeitsgründen umziehen. Schick die Rechnungen für alle Reparaturen mir.« Rowley hatte er zum Kauf der Farm ermutigt; Antony, Jeremys Sohn, war nur auf Gordons Drängen hin seinem heimlichen Wunsch gefolgt, die militärische Laufbahn einzuschlagen. Der wohlhabende Onkel hatte ihm allmonatlich ein reichliches Taschengeld zukommen lassen. Und Lionel Cloade war durch seinen Bruder veranlasst worden, einen Großteil seiner Zeit wissenschaftlichen Forschungen, die kaum etwas einbrachten, zu widmen und seine Praxis dementsprechend zu vernachlässigen.