Asmus klopfte ihm sacht auf die Schulter. Nach einer Weile beruhigte sich Bahnsen, stand auf und befreite sich in einer längeren Prozedur vom Sand an der Hose.
»Hast du mit Mart sprechen können, Hans Christian?«
»Ja! Er sagt, der einzige Fremde, den er im Hafen und in der Werft gesehen hat, bist du!«
Asmus holte tief Luft. Viel Hilfe hatte er nicht von Mart erwartet, aber auch nicht, dass dieser plötzlich ihn als möglichen Täter an den Pranger stellte.
Die überraschende Verbindung des Attentats mit ihm selbst brachte Asmus am späten Abend auf ganz neue Gedanken. Vor sich die Petroleumlampe, die auf der Back stehend ihr sanftes Licht verbreitete, und in Händen einen Becher mit heißem Tee, begann er den möglichen Ablauf durchzugehen. Auf das zugeschobene Luk fiel sanfter Regen, der gelegentlich einen Spritzer auf seine Jacke sandte. Der nächtliche Himmel war schwarz und ohne jeglichen Stern. Ausnahmsweise wehte kaum Wind.
Was war, wenn seine Person beteiligt war, gar den Auslöser für das Attentat dargestellt hatte? Mart war von jemandem gegen ihn, Asmus, aufgehetzt worden, möglicherweise von Jung. Jung schien mit seinem Vorgesetzten Sinkwitz gemeinsame Sache zu machen. Und Sinkwitz hatte Asmus zusammen mit Bahnsen schwatzen sehen, als er sich eigentlich in List hätte befinden sollen. Wenn es denn eine Warnung für Bahnsen war, sollte diese heißen, sich nicht mit Asmus einzulassen?
Es schien weit hergeholt.
Aber Bahnsen war ein Kenner der Interessen der Eingeborenen, von ihren Unter-der-Hand-Geschäften, von Schmuggel, kurz von Inselgeheimnissen. Darüber hinaus war er ein guter Beobachter und kein Feigling.
Es war deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass eine Freundschaft zwischen Bahnsen und einem ehemaligen erfolgreichen Kriminaloberinspektor eine Allianz darstellte, die jemandem gefährlich erscheinen mochte.
Die Franziska wiegte Asmus in der auflaufenden Flut so sanft, dass er beinahe eingeschlafen wäre. Bis ihn die Brisanz seiner Überlegungen aufschreckte.
Womit hatte er es in dieser Dienststelle eigentlich zu tun? Machte man sich nur das Arbeitsleben so leicht wie möglich, oder ging es um mehr?
KAPITEL 5
Es dauerte nicht lange, bis Asmus die Vorteile seiner neuen Beschäftigung entdeckte: Er konnte tun und lassen, was er wollte, auf der Insel umherstreifen oder sich mit einem Buch ans Morsum-Kliff legen. Genaue Vorschriften, was er zu tun hatte, gab es nicht.
Er wusste lediglich aus der amtlichen Polizeiverordnung, was er, wie alle anderen, zu unterlassen hatte: Stranddisteln und Dünenrosen zu pflücken. Damit konnte er leben. Was das Beste war: Weder von Sinkwitz noch von Jung war anzunehmen, dass sie die Dünen und Klippen gut kannten.
Als er sich nach einigen Tagen wieder auf sein Motorrad warf und davonknatterte, galt sein gegenwärtig größtes Interesse ohnehin den Möweneiern. Sie waren vom absoluten Schutz ausgenommen worden, weil man das seit Jahrhunderten geübte Recht der Bevölkerung, Eier zu Nahrungszwecken zu sammeln, ohnehin nicht hätte wirksam beschränken können. Pro forma war das Einsammeln allerdings auf Jagdberechtigte reduziert worden.
Asmus war jedenfalls fest entschlossen, seine Speisekarte um Möweneier zu erweitern, solange sie essbar waren. Ein paar Wochen später würden sie angebrütet und damit untauglich sein, so viel wusste er immerhin.
Die Dünen bei List waren Asmus’ erstes Ziel. Allerdings erlaubte er sich, vorher eine kleine Runde am Königshafen zu drehen. In der Bucht lagen einige Boote, auch eines, das er am Vortag schon gesehen hatte. An diesem Vormittag schwammen alle Ankerlieger auf. Es wunderten sich nur die Schafe, auf den Schiffen rührte sich nichts. Warum auch, er war ja mit dem Motorrad unterwegs, nicht mit dem Zollkahn.
Auf dem Rückweg am Schlechten Hafen entlang zum Zollschuppen bekam Asmus völlig unerwartet zu spüren, dass die Lister verärgert waren. Die Männer machten einen Bogen um ihn, sahen beiseite, der Wirt der »Fiskalischen Austernstube« schlug seine Tür mit einem Knall zu, und nur Schulkinder grüßten, wie es sich Erwachsenen gegenüber gehörte. Das wiederum machte ihm klar, in welchem Ausmaß seine Dienststelle ihre Aufsichtspflicht bislang vernachlässigt hatte. Vermutlich galt er in List bereits als scharfer Hund.
Als er zum Zollschuppen kam, entdeckte er zu allem Übel, dass das Schloss aufgebrochen war.
Sämtliche Flaschen waren ausgeräumt. Ein süßlicher Duft nach Schnaps lag in der Luft, herrührend von einigen Glasscherben auf dem Boden. An den schwarz geteerten Wänden hingen uralte Fischernetze, die Asmus vorher nicht bemerkt hatte. Offenbar war der Schuppen nach Aufgabe durch den Zoll schon Jahre lang von den Listern als Fischerhütte benutzt worden. Ungehalten trat er einige Scherben an die Wand.
Ein verstohlenes Tappen vor der Hütte, offenbar von zwei lahmen Füßen und einem Stock, ließ Asmus hinausschauen. Eine alte Frau kam vorbei.
In der Hoffnung auf Aufklärung trat er in die Tür, klemmte seinen Tschako unter den Arm und erkundigte sich höflich in seinem heimatlichen Platt, ob sie wisse, was hier passiert sei.
Sie starrte ihn mit geöffnetem Mund an. Braune, schadhafte Zähne wurden sichtbar, und ein dünner Speichelfaden rann ihr am Mundwinkel herab. Die Frage hätte er sich sparen können, dachte Asmus resigniert. Sie würde nicht freundlicher als die Männer reagieren.
»Jawohl«, sagte sie plötzlich, klemmte den Gehstock unter den Arm und rückte ihre Haube energisch zurecht. »Kerle von einem der Schiffe waren das. Keine Sylter. Verstehen konnte man sie nicht, die sprachen fremdländisch. Aber kein Dänisch, bilden Sie sich das bloß nicht ein! Die sind eines Nachts hier eingesegelt und neben dem Zollschuppen längsseits gegangen.«
Asmus war so überrascht, dass er sich beinahe zu bedanken vergaß. Mehr wusste sie nicht, aber immerhin. Wahrscheinlich hatten sich ohnehin die Täter sofort nach dem Einbruch mit Hilfe von Karbidscheinwerfern an der Insel Uthörn vorbei ins tiefe Wasser getastet. Dänen waren sie also nicht. Inzwischen hatte er sich auf Sylt hinreichend umgetan, um zu wissen, dass sich mehr und mehr Sylter Dänen offen zu ihrem Dänischtum bekannten und die alte Frau mit ihrer Sprache vertraut war. Waren die Diebe vielleicht Holländer? Jedenfalls waren sie auf und davon, und man würde sie nie fassen.
»Ich habe nichts gegen Dänen«, verteidigte Asmus sich lahm. Dann fiel ihm etwas anderes ein. »Soll ich dich auf meinem Motorrad nach Hause fahren, Mutter Ehrlich? Ganz langsam, damit dir nicht schwindelig wird.«
Sie lächelte ihre schwarzen Zahnstummel weg. Auf einmal wurden ihre faltigen Züge glatt, und Asmus konnte sich vorstellen, welch hübsche Frau mit goldblonden Zöpfen sie in ihrer Jugend gewesen war. »Nein, mein Junge, so schnell wird einer Friesin auch in Zeiten politischer Wirren nicht schwindlig. Außerdem wohne ich doch hier, sonst hätte ich das Schiff nicht gesehen.« Sie zeigte auf eine Kate, die nur durch den Grasweg vom Schlechten Hafen getrennt war.
Asmus schmunzelte, vor allem über seinen eigenen Fehler. Die Schönheit mochte sie verloren haben, aber nicht ihre Gewitztheit.
Asmus entschied sich, sofort nach Westerland zurückzufahren, um Meldung zu erstatten. Aus allem anderen hätte man ihm einen Strick drehen können.
Sinkwitz war nicht anwesend, obwohl er Dienst hatte. Vielleicht hatte er ja bei Morsum zu tun, eine Bemerkung von Matthiesen, die Asmus unverständlich geblieben war.
Jung hockte auf seinem Lehnstuhl wie üblich – sein Hintern musste auch ohne Hose schon quadratisch und grün vom Polster sein, mutmaßte Asmus und verkniff sich ein Grinsen. »Die beschlagnahmte Zollware in Sylt wurde gestohlen, Herr Oberwachtmeister«, meldete er korrekt.