»Lass uns auf den Holzstapel steigen«, brüllte Ose in Asmus’ Ohr. »Von dort bekommt man die bessere Übersicht.«
Asmus half Ose ritterlich, auf die zum Verlegen bereitgelegten Bahnschwellen zu klettern.
Der Deichfuß hatte schon Gestalt angenommen, soweit man blicken konnte. Wo bereits Schienen gelegt waren, machten sie einen scharfen Knick nach links, am dunstigen Horizont verschwand das Bauwerk in einem weiten Rechtsbogen im Watt. Möglicherweise waren auch dort schon Schienen verlegt, jedoch sah Asmus nur den Kleiboden, der so verdichtet war, dass seine Oberfläche im Zwielicht glänzte. Im rechten Winkel zum Damm ragte in die offene See hinaus ein dünner schwarzer Strich, an dessen Ende drei oder vier Schuten und Rammen festgemacht hatten.
»Was ist das?«, erkundigte sich Asmus.
»Das ist ein Hilfsdamm für die Feldbahn, mit der das Baumaterial von den Schuten hier auf Land transportiert wird. Die Gleise, Steine, Schwellen und so weiter werden aus Husum angeliefert.« Ose zeigte in die andere Richtung der Baustelle. »Dort sind die Wohnbaracken der Arbeiter. Die bleiben jeweils mehrere Wochen, bevor sie ein paar Tage frei bekommen und dann mit den Materialschuten zurückfahren.«
Asmus drehte sich um. Einfache kleine Holzhütten, in denen die Männer wahrscheinlich zu sechst oder zu acht hausten. Dagegen war nichts einzuwenden. Ungemütlich würden sie erst im Herbst werden, aber da würden die Arbeiten vermutlich sowieso eingestellt werden.
In der Nähe der Hütten fand eine Gruppe von Männern seine Aufmerksamkeit, die mit den Händen auf dem Rücken jemandem zu lauschen schienen. Eine Versammlung offenbar. Oder eine Predigt? Jedenfalls stand ein Mann auf einer Öltonne und sprach zu seinen Zuhörern. Asmus fiel zunächst nur seine Kappe auf, die sich durch ihre rundliche Form von den üblichen Schirmmützen unterschied.
»Schon wieder einer von denen! Komm, lass uns woanders hingehen«, schlug Ose vor und zog an Asmus’ Ärmel, um ihn in eine andere Richtung zu lenken. »Immer müssen sie hetzen. Dabei geht es ihnen gar nicht um Verbesserungen für die Arbeiter, sondern um Wählerstimmen.«
»Nein, warte! Die Stimme kenne ich doch«, widersprach Asmus. Er schüttelte Oses Arm ab und näherte sich der Gruppe.
Ose, die ihm folgte, raunte ihm zu: »Einer der kommunistischen Agitatoren. Sie kommen regelmäßig, um die Arbeiter aufzuwiegeln. Die streiken dann von Zeit zu Zeit, und wieder geht es nicht vorwärts.«
»Aber das wäre doch in eurem Sinne.«
»Nein. So nicht.« Ose schüttelte den Kopf, dass der eine dicke Zopf, den sie heute lose trug, von einer Schulter auf die andere sprang.
Asmus, der inzwischen den Tschako unter seiner von innen nach außen gewendeten Jacke versteckt hatte, schlenderte zu den Männern und schlängelte sich in die letzte Reihe der Zuhörer. Das Grün seiner Uniform fiel hoffentlich nicht zu sehr zwischen den Blaumännern oder den grauen Kitteln der Arbeiter auf.
Er biss sich auf die Unterlippe, als er erkannte, wer da von der Tonne herunter sprach: Sinkwitz.
»Die klassenlose Gesellschaft ist unser Ziel«, brüllte Sinkwitz und streckte seine geballten Fäuste in die Höhe. »Ihr knechtet für Kapitalisten, die sich in dem Geld baden, das ihr verdient! Bei diesem Dammbau gehen euch die Kälte und die Nässe auf die Lungen, ihr endet mit Schwindsucht, oder ihr holt euch Verletzungen und Gicht, die euch arbeitsunfähig machen, ihr ertrinkt, werdet vom Blitz erschlagen und anderes mehr. Das wollen wir ändern! Und ihr habt die Wahl im Mai des nächsten Jahres! Ihr wisst, was ich meine!«
Das war es, wovon Matthiesen gesprochen hatte: Sinkwitz betätigte sich bei den Arbeitern am Damm als sozialistischer Agitator, wenn man seine Rede genau analysierte, vielleicht auch als kommunistischer. Dies war, soweit Asmus es beurteilen konnte, mit seinem Amt als Chef der Schutzpolizei nicht vereinbar. Aber möglicherweise verstand Sinkwitz auf dem Grat zwischen Erlaubtem und Nichterlaubtem zu balancieren, ohne in die Falle zu gehen.
»Na, du Sylter Naturhure, auch wieder unterwegs, um Ärger zu machen?«, vernahm Asmus plötzlich eine Stimme. Er wandte sich um. Ein drahtiger kleiner Kerl hatte seinen Kopf zwischen ihn und Ose gezwängt und wartete mit gebleckten Zähnen auf ihre Reaktion. Sie wirkte zu Stein erstarrt.
»Nehmen Sie die Beleidigung zurück, oder ich zeige Sie an«, erklärte Asmus wütend und setzte seinen Tschako auf. »Ich nehme Sie auch gerne gleich mit ins Revier, wo Sie Ihre Aussage machen können.«
»Dazu haben Sie kein Recht«, stammelte der Kerl, überrascht durch den Anblick der Polizeiuniform. »Fragen Sie nur den Genossen Sinkwitz. Eine Person wie dieses Weib hat hier nichts zu suchen. Die will Sabotage üben!«
Genosse! Auch dieser unflätige Kerl war Kommunist. Vor einigen Wochen erst hatten diese Leute im Rheinland für Ausschreitungen und Plünderungen gesorgt. Gott behüte, dass sie jetzt auch hier einen Aufruhr anzettelten. »Unsinn! Zu dieser Baustelle haben behördliche Mitarbeiter der Insel Sylt und ihre Begleiter jederzeit Zugang! Das weiß selbstverständlich auch Hauptwachtmeister Sinkwitz. Hingegen vermute ich, dass Sie sich auf dieser Baustelle illegal aufhalten. Oder arbeiten Sie etwa hier?«
Dem Genossen liefen Schweißtropfen an den Schläfen entlang und versickerten in einem grauen Halstuch. Sein Blaumann war sauber und sah eher nach Verkleidung als nach Schutzkleidung aus. Im Augenblick war er ein in Bedrängnis geratener Komplize des obersten Kommunisten der Insel. Er schwieg.
»Sind Sie vom Festland?«, fragte Asmus scharf.
»Aus Flensburg.«
»Dann rate ich Ihnen, so schnell wie möglich dorthin zurückzufahren. Leute wie Sie brauchen wir hier nicht. Wie heißen Sie?«
»Ferdinand Schröder.«
»Und als was arbeiten Sie?«
»Werftarbeiter.«
»Nun gut. Ich werde Herrn Sinkwitz über einen Ferdinand Schröder informieren, der sich hier illegal agitatorisch betätigte. Ich werde darauf bestehen, dass Ihnen verboten wird, die Insel in Zukunft zu betreten. Wenn wir das im Tagesprotokoll festhalten, wird auch Herr Sinkwitz Sie nicht mehr aus Parteifreundschaft schützen können.«
Der kleine Kerl warf Asmus einen feindseligen Blick zu und verschand. Asmus wurde abgelenkt, weil ihm auffiel, dass Sinkwitz seine Rede beendet hatte, von der Tonne heruntergesprungen war und inzwischen mit einem Mann in Arbeitskleidung tuschelte.
Asmus hätte es nicht gekümmert, wenn der unbekannte Kerl nicht seine volle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hätte. Ein Kerl wie ein Schrank, er glotzte zu Asmus herüber, nickte und schüttelte nach einer Weile den Kopf. Aus der Ferne sah es aus, als empfange er Befehle von Sinkwitz.
»Du hast mir ja gar nicht gesagt, dass der Agitator mein eigener Chef ist. Kennst du zufällig den Mann neben Sinkwitz?«, raunte Asmus in Oses Ohr.
»Sicher. Jörn Frees, ein dorfbekannter Taugenichts, der in Keitum wohnt. Er schlägt sich so durch als Tagelöhner oder treibt sich herum, wenn er keinen findet, der Verwendung für ihn hat. Aber seitdem es die Baustelle gibt, arbeitet er manchmal hier. Warum interessiert er dich?«
»Ich weiß es nicht. Ein Gefühl. Sie reden über uns. Die Frage ist, meinen sie dich oder mich? Oder uns als Gespann?«
»Komm, lass uns gehen, wenn du genug gesehen hast. Mir ist nie wohl, wenn ich hier bin.«
»Ose! Wie kam denn dieser Flensburger Drahthaarterrier dazu, dich in solcher Weise zu beleidigen?«, fiel Asmus ein und ließ auf sich beruhen, dass sie seine Fragen nicht beantworten wollte.
Ose winkte ab. »Solche Häme schütten sie über uns alle aus, die sich um die Natur kümmern. Natürlich nur, wenn man nicht in Begleitung eines Polizisten ist. Unsere Gruppe ist ja bekannt. Selbst den alten Herrn Avenarius attackieren sie als Spinner. Sie kennen unsere Vorbehalte gegen den Damm und glauben, wer das Kliff gerettet hat, schafft es auch, den Bau des Damms zu verhindern, wenn er will. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze – es ist schließlich ein riesiges Bauvorhaben. Und wer ist in diesen Zeiten nicht dankbar für Arbeit und Lohn?«