Es gab auch andere, die keine Friesen waren. Asmus wandte hastig sein Gesicht ab, als er Ferdinand Schröder erkannte, der als einer der letzten in den Saal schlüpfte und höflich mit großer Geste auf einen frei gebliebenen Platz in der Mitte der Reihen gewinkt wurde. Vermutlich hatte er genau solches Aufsehen vermeiden wollen.
Der Asmus nicht bekannte Redner – er mochte der Bürgermeister oder ein Kaufmann oder beides sein – trat ans Pult. »Leeve Landslüd, liebe Landsleute«, begann er, »zugunsten all derjenigen, denen Plattdeutsch nicht so geläufig ist – und ihrer gibt es gottlob viele, Sylt wird nicht aussterben –, werde ich fortan Hochdeutsch sprechen und bitte auch alle, die sich mit einem Beitrag melden, dies zu tun.«
Als das leise Gelächter verstummt war, sprach er tragend weiter. »Wie wir alle wissen, verdanken wir das täglich wachsende Elend auf unserer geliebten Insel Sylt den unsäglichen Bedingungen des Versailler Vertrages, den die Verräter von Zentrum und SPD unterzeichnet haben. Hinzu kommt die tägliche Hetze wegen unserer angeblich alleinigen Kriegsschuld, immer wieder von den Kommunisten vorgetragen. Ich weiß mich mit euch allen einig, die ihr diese hochverräterische Einstellung verabscheut.«
Der Flensburger vielleicht ausgenommen, dachte Asmus, während die Versammlung in frenetisches Klatschen ausbrach.
»Umso schlimmer sind diese Störaktionen, weil sie fast täglich mit Dingen vermischt werden, die unsere wichtigsten Einnahmen betreffen, das Geschäft, das wir gerade mit Kraft wieder zu beleben suchen: den Fremdenverkehr in allen seinen Facetten. Vom Hotelier über den Kaufmann bis zum Betrieb, der Kutschfahrten unternimmt.«
Der Jüngling neben Asmus, in Knickerbockern und losem Kittelhemd, meldete sich.
»Ja, bitte? Zwischenfragen sind gern gestattet, sagte ich das schon?«
Alle drehten sich zum Fragesteller um. Asmus versuchte vergeblich, sich zu verstecken, schließlich fummelte er ziellos in seinem Gesicht herum, um es einigermaßen zu verdecken.
»Aus allen Ecken der Republik kommen seit mehreren Jahren Meldungen über Judenfreiheit von Stränden. Oder die Anschläge an Hotels: Juden und Hunde dürfen hier nicht herein. Wie hält es die Sylter DNVP damit?«, fragte der Mann, der sich allein durch seine ungewohnte Sprache als Gast aus dem Süden zu erkennen gab. »Die DNVP gilt als antisemitisch.«
Tiefes Schweigen senkte sich über die Versammlung, in der es vorher wegen Räuspern, Husten, Füßescharren und anderen Begleitgeräuschen nie ganz lautlos zugegangen war.
»Das spielt bei uns keine Rolle«, antwortete der Redner etwas mühsam.
»Sollte es aber, Herr Müller! Kriegs- und Inflationsgewinnler gehen uns alle an!«, geiferte der Mann mit der Hakenkreuzbinde. »Davor schützt uns nur die NSDAP!«
»Du bist hier in der falschen Versammlung, Böhrnsen«, rief jemand, den Asmus nicht sehen konnte, und einige klatschten zum Einverständnis.
»Böhrnsen hat doch recht. Lasst ihn sprechen«, hörte Asmus aus dem Durcheinander heraus, das sich zwischen Anhängern und Gegnern der DNVP entwickelte, aber schnell abebbte.
»Ich möchte zur Sache kommen«, erhob der Redner die Stimme, um unverzüglich fortzufahren. »Wir haben längst nicht die Gästezahl wiedergewonnen, wie wir sie vor dem Krieg hatten. Wir brauchen mehr und bessere Angebote, um sie herzulocken. Was wir ausreichend haben, sind Lesesäle und Räumlichkeiten für Konzerte. Was wir brauchen, sind Spielsäle in Kombination mit neuen und moderneren Bars, Restaurants und Cafés. Mit anderen Worten, es bietet sich eine Erweiterung des Kurhauses an.«
Ein elegant gekleideter Herr aus der vordersten Bankreihe erhob sich und erhielt das Wort. »Bitte, Rörd Jacobsen, deine Meinung.«
Asmus erkannte ihn sofort.
Für Jacobsen, wieder in einem eleganten grauen Anzug aus weichem Stoff, war die Vorzugsbehandlung offenbar eine Selbstverständlichkeit. »Im Bäderführer Westerland wird unser Musikpavillon unverblümt als altmodisch geschildert. Seitdem wir das Sinfonie-Orchester von Flensburg als Kurkapelle engagiert haben, sollten wir den Pavillon der Qualität der Musiker anpassen. Er muss neu oder zumindest umgebaut werden, am besten wieder in eine Musikmuschel, wie wir sie vor dem Krieg hatten und die viel Anklang fand.«
Die Kaufleute in seiner nächsten Nähe nickten zögernd.
»Mit anderen Worten, meine Herren«, fuhr der Hauptredner fort, als Jacobsen sich setzte, ohne eine Diskussion abzuwarten: »Investitionen in großem Stil sind gefragt.«
»Aber wie denn, Herr Müller? In dieser Wirtschaftssituation!«
Müller lächelte überlegen. »Neue Investoren stünden zur Verfügung.«
»Unter welcher Bedingung?«, rief ein Vorwitziger.
»Der Vorbehalt ist, dass bei der Reichstagswahl im nächsten Jahr die Sylter Wahlergebnisse den Fortbestand konservativer Meinungen widerspiegeln.«
Ein weiterer Mann erhob sich aus der ersten Reihe, hob die Hände und klatschte, was von der Menge, die ihn offenbar kannte, aufgenommen wurde.
»Ich begrüße unseren Abgeordneten Günther Bauer!«, rief Müller emphatisch. »Unser Überraschungsgast für heute.«
»Ihr wollt nur keine SPD!«, brüllte jemand von hinten, den der Abgeordnete nicht kümmerte.
»Richtig! Mit denen wären wir im Nu bei Verboten von Bauvorhaben, seien es ein weiterer Damm, eine Brücke oder der Ausbau des Flughafens.«
»Ganz davon zu schweigen, dass man den Reichen auf die Finger klopfen würde, die mit Beziehungen ihre Sommerhäuser illegal in den schönsten Gebieten bauen lassen. In Hörnum wird schon wieder geplant …«
Dieser Zuruf wurde von Parteimitgliedern und Sympathisanten mit eisigem Schweigen bedacht. Ein einziges bedächtiges Klatschen erhob sich in der Stille, das von dem Mann in Knickerbockern neben Asmus kam. Schmunzelnd reckte er den Hals und suchte nach dem Zwischenrufer, als ob er ihn kenne. Dann nickte er ihm zu.
»Damit bedanke ich mich für das lebhafte Interesse und wünsche guten Heimweg«, rief Redner Müller in den anschwellenden Lärm hinein, der durch die aufflammenden Diskussionen und das Zurückschieben der Stühle entstand.
Das Letzte, das Asmus sah, war, dass Müller sich mit dem Abgeordneten Bauer in eine Unterredung vertiefte und Jacobsen sich ihnen zugesellte. Zu dritt führten sie offenbar ein wichtiges Gespräch, das Asmus seltsam vorkam, weil einige Saalordner sie abschirmten.
KAPITEL 8
Im Gedränge am Ausgang des Rüsselkäfers schob sich Asmus hinter dem Knickerbockermann her, der einen anderen Besucher untergehakt hatte und mit ihm vertraulich flüsterte. Wahrscheinlich war er derjenige, dem er zugeklatscht hatte.
Der von den illegalen Häusern in den Naturschutzgebieten gesprochen hatte. Was wusste er darüber? Asmus spitzte die Ohren. Am Klang erkannte er den Einheimischen, aber er konnte sich natürlich nicht zwischen sie drängen.
Er merkte sich das Äußere des Mannes, soweit er es von hinten erkennen konnte. Vielleicht wusste Ose Rat, wenn er ihn beschrieb: ein Kopf kleiner als er selbst, trotz seiner Jugend schütteres aschblondes Haar, etwas länger als üblich, aber modisch akkurat gescheitelt, gekleidet in eine lässig sitzende weiße Hose, darüber ein Pullover mit Rautenmuster. Das zur Hose gehörende Jackett baumelte ihm am Daumen über der Schulter.
Eine Bewegung rechts von Asmus lenkte ihn ab. Ferdinand Schröder, der offenbar Asmus gerade entdeckt hatte, versuchte sich aus der Umklammerung der lebhaft diskutierenden Gruppen zu befreien. Seinen kräftigen Pranken konnte niemand standhalten.