»Und Husum?«
Sinkwitz winkte ab. »Es ist ein Unfall. Dafür sind wir selbst zuständig.«
»Ich gehe gleich an die Arbeit«, versprach Asmus. Schröder interessierte ihn persönlich, nachdem er ihn schon fast der Sabotage auf der Werft verdächtigt hatte. Die Gasse war inzwischen durch Bänder gesperrt worden, das Motorrad und der Ast lagen da wie vorher. Abgerissene Ästchen und Laub wirbelten im immer noch scharfen Wind wie in einem Kanal vor Asmus her, torkelten an den Hauswänden entlang und verschwanden schließlich am Ende der Straße.
Asmus blieb unter der Linde stehen und sinnierte ins Geäst hoch. Er konnte die helle Bruchstelle des Astes nahe am Stamm erkennen, die sich an der Luvseite des Baums befand. Allerdings wäre es wahrscheinlicher gewesen, er wäre nach dem Bruch im Geäst hängen geblieben und allmählich am Stamm hinuntergerutscht. Wie hatte er sich daraus lösen und dem Motorradfahrer entgegenwehen können?
Schröders Umrisse waren gegen den Wind gut einen Meter vor dem Baum zu sehen, wobei zu unterstellen war, dass er in Fahrtrichtung dorthin hingerutscht war. Asmus rief sich das Hämatom vor Augen, auf das ihn der Sanitäter aufmerksam gemacht hatte: quer über den Kehlkopf und insbesondere den Adamsapfel. Übrigens hatte es gewiss eine eigene Bedeutung, dass ihm und nicht seinem Chef die Verletzung vorgeführt worden war.
Asmus benötigte nicht lange, um die Lage zu beurteilen: Es war technisch unmöglich, dass der Ast Schröder waagerecht gegen den Wind entgegengekommen war – es sei denn, eine Hand hätte diesen Ast geführt. Anschließend war der Ast benutzt worden, um die Räder des Motorrads und dessen Lampe zu demolieren, was nach ungezügelter Wut aussah.
Asmus blieb einen Moment im geschützten Eingangsbereich der Polizeiwache stehen, um ein wenig mehr Klarheit über die Tatsachen zu gewinnen, die er seinem Vorgesetzten gleich zu präsentieren hatte.
Ohne Vorrede verkündete Asmus kurze Zeit später das Wichtigste seiner Ermittlung: »Ferdinand Schröder ist das Opfer eines Hinterhalts geworden. Der Ast gegen seine Kehle wurde geführt, aber ob es ein Streich sein sollte, ein Unfall, Totschlag oder Mordanschlag, lässt sich daraus nicht entnehmen.«
»Ich habe es befürchtet«, murmelte Sinkwitz in sich hinein. »Die Nazis machen sich immer breiter, auch auf Sylt.«
»Seit ihrem Verbot treten sie wenig in Erscheinung«, widersprach Asmus. »Von den Kommunisten werden hingegen aus allen Gegenden der Republik Störaktionen gemeldet.«
Sinkwitz maß ihn mit einem verächtlichen Lächeln. »Was wissen Sie denn davon? Für unsereinen wird das Leben mit jedem Tag gefährlicher. Ihnen ist nicht klar, dass der Täter mich gemeint haben könnte? Gelegentlich benutze ich nach Dienstschluss das Motorrad. Hingegen nur sehr zufällig ein Dieb.«
Daran hatte Asmus allerdings nicht gedacht. Für Sinkwitz’ Annahme sprach immerhin auch, dass Schröder jetzt als Verdächtiger im Werftattentat ausgeschieden war. »Wir sollten Anzeige gegen Unbekannt erstatten.«
»Nein, das lassen wir lieber«, warf Sinkwitz hastig ein. »Es bleibt offiziell bei einem Unfall, und Sie können in aller Stille weiter ermitteln, das wollten Sie doch die ganze Zeit. Draußen in den Naturschutzgebieten ist ja nicht viel zu tun.«
Asmus nickte und salutierte. Kurz bevor er gehen wollte, klingelte das Telefon, das an der Wand neben der Tür hing.
Sinkwitz sprang auf, nahm ab, meldete sich und lauschte. »Schädelbruch. Primäre Quetschung der Kehle«, wiederholte er entgeistert. »Mit großer Wucht, ich verstehe. Danke. Ein Gärtner wird den Baum absägen.«
Als ob der Baum Schuld hatte. Asmus ging. Er hatte genug gehört.
Seltsamerweise würde er für seine Arbeit jetzt noch mehr Freiheit erhalten als vorher schon, was allerdings nicht als Vergünstigung gedacht war. Er fragte sich allmählich, ob Sinkwitz geglaubt hatte, in Gefahr zu sein. Hatte er damit gerechnet, einen erfahrenen Ermittler zu benötigen, der Husum unbekannt, hingegen in gewisser Weise von ihm abhängig war?
Um diesen Gedanken weiterzuspinnen: Hatte Sinkwitz für diesen Fall geglaubt, Asmus kaufen zu können, indem er die Anzeige wegen Möweneierdiebstahls unter den Tisch fallen ließ? Ein noch gröberer Versuch, Asmus gefügig zu machen, war allerdings die versteckte Drohung gewesen, Schröder könnte für einen weiteren Eintrag in Asmus’ Personalpapieren sorgen.
Jetzt war diese Gefahr zwar vorbei, aber wusste man, ob die Beschuldigung nicht noch nachträglich auftauchen würde? Die Vorsorge, ein entsprechendes Papier bereitzuhalten, war Sinkwitz zuzutrauen.
Asmus fühlte sich allmählich wie in einer Schlangengrube. Er brauchte Luft!
Für seinen Rückweg gönnte sich Asmus den Umweg an der Promenade entlang. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, und die Luft roch frisch, trotzdem war die Zahl der hier Flanierenden nicht vergleichbar mit denen an seinem ersten Sylter Tag mit Matthiesen. Damals hatten die umherschlendernden Gäste Zeit gehabt, mit einheimischen Kindern oder Hunden volksnahe Worte zu wechseln, sie hatten Einkaufstüten mit dem Aufdruck bekannter amerikanischer oder französischer Modehersteller zur Schau gestellt und sich in den Schaufenstern gespiegelt, um sich von ihrem guten Aussehen zu überzeugen.
Heute waren die Straßen ohne jeden Zweifel weniger belebt. Gewiss zogen die Gäste die Konsequenzen. Vor allem natürlich aus den unaufhaltsam steigenden Preisen, mit denen sie bei ihrer Ankunft nicht hatten rechnen können. Aber auch aus dem Wetter, das im nördlichen Norwegen kaum schlechter hätte sein können. Die Kollegen erinnerten sich nicht an solche Sommersintfluten in den letzten Jahren, und das bei anhaltender Kälte.
Ose sei im Garten und grabe frühe Kartoffeln aus, teilte ihre Mutter Asmus mit, worauf sie ihn dann zur Hintertür hinausließ und ihm Oses Rücken zeigte.
Es war ein großer Garten: Neben der Klöntür die Zisterne, dahinter Reihe um Reihe mit Grünzeug verschiedener Sorten – identifizieren hätte er es nicht können –, und quasi vor den abfallenden Dünen und dem Meer im Hintergrund hockte Ose. Zur Nordseite schloss sich der Obstgarten mit Apfel- und Pflaumenbäumen an.
»Deine Mutter hat mich hierher geschickt«, sagte Asmus leise und etwas verlegen.
Ose blickte zu ihm hoch. »Das will ich doch hoffen. Ist heute früh wieder etwas passiert? Weil du nicht gekommen bist.«
»Ja. Ein Unfall am Polizeirevier.«
»Im Sturm?«
»Na ja, es scheint so.«
»Bei Archsum sind in der Marsch drei Schafe ertrunken, die sich nicht auf höheres Land retten konnten. Wer nicht viel mehr Gehirn als ein Schaf hat, kann schon mal bei viel Wind verunglücken.«
»Hm«, grunzte Asmus. »Ist es normal, dass Schafe ertrinken?«
»Eigentlich nicht. Aber der Sturm kam so schnell, und in der Dunkelheit konnten sie wohl vom Bauern nicht mehr gefunden werden. Aber nun lenke nicht ab. Es ist also kein Unfall gewesen«, schloss Ose. »Komm, wir setzen uns und unterhalten uns darüber.«
Zwar wollte Asmus das eigentlich nicht, aber da es ohnehin keine offizielle Angelegenheit war, und Ose überdies als Einheimische über Kenntnisse verfügte, die ihm nicht zugänglich waren, war er einverstanden. Er folgte ihr zu einer Sitzbank in der Südwestecke des Gartens, die sich in einem aufrecht gestellten und umgebauten alten Ruderboot mit plattem Boden befand. Er grinste. Sehr windgeschützt, diese ungewöhnliche Sitzbank.
»Dein Freund Ferdinand Schröder ist tot«, begann Asmus. »Sinkwitz behauptet, er habe den Schlüssel zum Schloss des Motorrads der Wache gestohlen, dazu die Motorradhaube und die Brille, und sei losgefahren. Nach einem tätlichen Angriff auf ihn verunglückte er in der Gasse neben dem Polizeirevier. Sinkwitz glaubt, es könne sich um eine Verwechslung handeln.«