Böhrnsen dirigierte seinen Besucher mit der Hand zu einem mit rotem Samt bezogenen Stuhl. »Setzen Sie sich bitte, Herr. Benötigen Sie eine Kutsche für galante Ausflüge? Meine Kutscher sind sehr diskret. Ich habe die bequemsten Fahrzeuge der ganzen Insel, und wir fahren Sie, wohin immer Sie wollen. Sie können stunden-, tage- oder wochenweise mieten.«
»Nein, besten Dank, Herr Böhrnsen. Ich habe nur ein paar Fragen an Sie.«
»Wer sind Sie, und was wollen Sie?« Das Gesäusel von vorher war unvermittelt in einen barschen Ton übergegangen.
»Ich entschuldige mich. Ich bin Wachtmeister Asmus.«
»Ach, Sie sind Asmus!« Sein aufmerksamer Blick erfasste Asmus rundum. »Habe schon von Ihnen gehört. Sind Sie im Dienst?«
Keine dumme Frage. Diesem Mann gegenüber durfte er sich keine Blöße geben.
»Ich würde Ihnen in diesem Fall keinen Pharisäer anbieten …«
»Nicht richtig im Dienst. Ganz privat aber auch nicht«, bekannte Asmus bedauernd. »Ich bin inoffiziell hier. Ich hoffe auf Ihre Hilfe.«
»Oh.« Er war erkennbar überrascht.
»Man könnte auch sagen: Mitarbeit. Es spricht sich herum, dass Sie sich zuweilen als Mitglied der NSDAP betätigen.«
»Na und?«
»Die Partei ist verboten, wie Sie sicherlich wissen. Was Sie privat machen, geht die Polizei nichts an, aber wenn Sie im öffentlichen Raum agieren, müssen wir einschreiten.«
»Schreiten Sie denn gegen die Kommunistische Partei auch ein?«
»Sobald sie als solche öffentlich tätig wird, ja.«
»Und Ihr eigener Vorgesetzter? Was ist mit dem?«
»Er hütet sich, in seinen Reden und Vorträgen die erlaubte Grenze zu überschreiten. Seine persönliche Meinung darf er verkünden, sofern er nicht empfiehlt, sich der illegalen KPD anzuschließen.«
»Ach ja. Und ich nicht?«
»Die Weitergabe von NSDAP-Fähnchen für den Schulgebrauch ist etwas anderes. Nur so, als kleine Warnung.«
Böhrnsen richtete sich auf, die Hände auf die Armlehnen gestützt, ein Bild der Empörung. »Ich darf meinem Schwiegersohn keine Fähnchen für den privaten Gebrauch überlassen?«
Asmus ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Schwiegersohn? Diese Verbindung mit Böhrnsen hatte Honke Paulsen aber gut zu verstecken gewusst. »Die Fähnchen werden in der Schulsammlung aufbewahrt. Und Ihre Tochter ist also mit Herrn Paulsen verheiratet?«
Der Fuhrunternehmer sank zurück und machte es sich wieder bequem. »Noch nicht. Die Verlobung steht kurz bevor. Wir haben es bis jetzt geheim gehalten.«
»Sie sprechen also von der Verlobung des Lehrers mit der munteren jungen Dame, die vorhin auf die Kutsche flatterte?«
»Sie sind meiner Mausi begegnet? Ja, ja, gewiss.«
Mausi war Asmus unerwartet frivol erschienen. Jedenfalls fand er nicht, dass sie zu dem biederen Lehrer Paulsen passte. »Sie haben aber auch Enkel in der Keitumer Schule?«
»Mein Sohn wohnt dort.«
So erklärte sich das also. »Kennen Sie andere Kommunisten auf Sylt?«
Böhrnsen starrte ihn mit seinen ausdruckslosen hellblauen Fischaugen an. »Natürlich. Aber die sind alle miteinander harmlos. Bauern und Landarbeiter stellen keine politische Gefahr dar und sind obendrein lernbereit. Die Gefahr für Sylt, das sind die Fremden! Die gezielt herkommen, um ihre kommunistische Wühlarbeit zu verrichten, auch nachts.«
Asmus wurde hellhörig. »Ach ja?«
»Ja. Es gibt welche, denen Sinkwitz Logis bietet, und darin steckt doch wohl etwas mehr Kommunismus als in sozialistischen Reden, die im Wind verwehen. Oder? Das nenne ich jedenfalls eine kommunistische Verschwörung.« Böhrnsen erregte sich. Kleine Spucketropfen lösten sich von seinen Lippen und flogen wie Gischt in die Umgebung.
Asmus wischte sich unauffällig die Wange. »Meinen Sie jemanden Bestimmten?«
»O ja. Da war ein Flensburger …« Böhrnsen verstummte abrupt, als ob er schon zuviel gesagt hätte.
»Und was hat er getan, außer auf Sylt zu übernachten?«
»Er lief herum und bearbeitete die Leute einzeln. Wie schlecht es ihnen ginge, wie ungerecht Geld verteilt sei. Sie könnten ja auf ihrer eigenen Insel sehen, dass es stinkreiche Sommergäste gäbe, die mit Tausendern für Kaffee und Kuchen um sich werfen könnten, während sie selber schon wieder bei Steckrüben angelangt wären. Und immer hieß es: KPD wählen, die wird spätestens 1924 wieder zugelassen!«
»Nun ja. Damit ist jetzt Schluss. Dieser Flensburger fiel in der Sturmnacht einem Verkehrsunfall zum Opfer. Ich schreibe jetzt einen Abschlussbericht, und damit ist die Angelegenheit für uns beendet, denke ich.«
Böhrnsen nickte, als sei ihm Schröders Tod bekannt.
Asmus erhob sich mit Vertrauen erweckendem Lächeln und reichte dem Fuhrunternehmer die Hand, die dieser, inzwischen in Gedanken abwesend, nicht wahrnahm. »Tschüs, Herr Böhrnsen.«
Im Flur knipste Asmus sein künstliches Lächeln aus. Der Mann kannte Schröder, da war er sich ganz sicher.
Draußen stieg gerade Mausi in anmutiger Haltung aus der Kutsche, gestützt von der Hand des Kutschers. »Jetzt weiß ich, worum es Ihnen ging«, flötete sie Asmus entgegen. »Um diesen Kerl, der vom Wind vom Motorrad geweht wurde. Glauben Sie doch nicht, dass sich so etwas auf einer Insel wie Sylt geheim halten ließe! Sie hätten gar nicht so geheimnisvoll tun müssen. Dass mein Vater befragt wird, ist ja wohl selbstverständlich.«
»Wieso?«, erkundigte sich Asmus mit gespielter Verblüffung.
Mausi trat nah an ihn heran. »Es gibt nichts auf Sylt, von dem er keine Kenntnis hat. Selbst was in Berlin vor sich geht, weiß er.«
»Wie das?«
»Oh, er ist beliebt bei Berlinerinnen, die allein reisen … Vater hört viel … Er ist anders als andere in seinem Alter. Er hat einige Monate bei unseren Verwandten in Amerika gelebt. Ich bin stolz auf ihn. Er trifft auch galante Verabredungen wie ein Weltstädter.«
»Geht er denn abends lange aus?«
»In der Saison häufig. Und jetzt ist Hochsaison, selbst wenn Gäste wegen des Regens abreisen. Aber wenn er sich mit ihnen verabredet, überlegen sie es sich.«
»Ich hielt Ihren Vater für etwas siech«, bekannte Asmus. »So wie er auf dem Sessel lag.«
Mausi kicherte hemmungslos. »Wo denken Sie hin! Es ist nur wegen seines Rückens. Manchmal tanzt er die halbe Nacht durch und muss sich bei Tage schonen. Vor zwei Tagen hat er sich wohl übernommen.«
»Das beruhigt mich. Ich verabschiede mich, Fräulein Böhrnsen.« Asmus zog die Mütze und verbeugte sich.
Mausi sah ihm beim Starten des Motorrads mit mehr Interesse zu, als es sich für eine junge Frau schickte, die bald den Dorflehrer von Keitum heiraten sollte.
Am nächsten Morgen erstattete Asmus seinem Chef Bericht.
Sinkwitz versank in Nachdenken. »Sie meinen also, man sollte ihn zum Verhör laden? Mit Böhrnsen ist nicht gut Kirschen essen. Er hat die Kaufmannschaft von Westerland hinter sich.«
Das war es also. Auf der anderen Seite wollte Sinkwitz aus persönlichen Gründen Schröders Tod aufklären. »Als die Sprache auf Schröder kam, den Böhrnsen nur den Flensburger nannte, erregte er sich ziemlich. Und seine Tochter Mausi erzählte mir, dass er häufig nachts galante Verabredungen hat, auch vorgestern. Dieses alles würde ich gerne offiziell im Protokoll festhalten. In Zivil und inoffiziell, wie ich gestern war, hätte er mich ausgelacht, und sei es nur um zu beweisen, dass er seine Rechte kennt. Ich ziehe es vor, ihm mit der Vollmacht des Staates entgegenzutreten.«
»Das ist richtig.«
»Im Kurhaus war vorgestern Nacht Tanz«, fuhr Asmus fort. »Es könnte bei den Heimkehrern Zeugen dafür geben, was neben der Polizeistation passierte. Für den Anfang wäre durchaus Böhrnsen geeignet. Immerhin sollte er Auskunft geben können, wer außer ihm beim Tanzvergnügen war.«
»Ja, gut. Aber seien Sie um Himmels willen vorsichtig«, mahnte Sinkwitz. »Wir können uns einen Krieg zwischen Kaufleuten und Polizei nicht leisten.«