Natürlich nicht, dachte Asmus, lieber schauen wir bei ein bisschen Alkoholschmuggel beiseite oder auch bei ungeklärten Todesumständen wie in der Werft. Nur nichts aufrühren! »Ich mache mich sofort an die Arbeit«, verkündete er, und sah im Hinausgehen, dass Sinkwitz das Gesicht gegen die Decke gerichtet hatte. Was drückte sein seltsames Mienenspiel aus? Beunruhigung, Misstrauen, Angst oder Hoffnung?
Wachtmeister Jep Thamsen erklärte sich bereit, Böhrnsen die Vorladung als Zeuge zu überbringen, zumal er in dessen Nähe wohnte. Dafür durfte er einige Minuten früher Feierabend machen.
Um sechs Uhr ging auch Sinkwitz, und Asmus war allein in der Wache. Die anderen waren ohnehin schon fort.
Beste Gelegenheit für Asmus, nach dieser Anzeige wegen der Möweneier zu suchen. Der Zeitraum, um den es sich drehte, waren die letzte Maiwoche und der ganze Juni gewesen. Vorher hatte er sich um Naturschutz nicht gekümmert, danach waren viele Eier befruchtet, und man ließ die Vögel in Ruhe brüten.
Es sei denn, man war ein ganz gieriger Badegast ohne jegliche Ahnung. Dann schlug die Wirtin des Eiersammlers womöglich zehn Eier auf, um daraus Rührei zu bereiten, und fand acht davon besetzt mit kleinen unreifen Vögeln, die auf dem Misthaufen landeten. Vor solchen Fehlern hatte ihn Ose bewahrt.
Die abgeschlossenen Journale der vergangenen Monate befanden sich in Sinkwitz’ Büro. Asmus hatte schon damals das deutliche Gefühl gehabt, dass sein Chef ihn abgewimmelt hatte, damit er der Anzeige nicht nachging. Und später in der Fülle der anfallenden Pflichten vergaß.
Das Büro war entsprechend der Vorschrift nicht abgeschlossen – hier hingen noch die Ersatzschlüssel für das nicht mehr existierende Motorrad, für die Ausnüchterungsbzw. Gefängniszelle, für die Nebengebäude und einige Kellerräume, die jederzeit zugänglich sein mussten. Zum Glück.
Der Abend war so hell, dass Asmus ohne Lampe auskommen konnte. Auf Zehenspitzen trat er an das Regal an der Rückwand des Raums, in dem er die Journale vermuten musste, wachsam, die Ohren förmlich nach hinten angelegt. Nicht selten kam noch einer der Kollegen zurück, um eine vergessene Brotdose abzuholen, um einen versehentlich mitgenommenen Schlüssel abzuliefern oder um eine Akte mitzunehmen, die ihm am nächsten Morgen einen Umweg ins Dienstgebäude ersparte.
Die schwarz eingebundenen Büchlein waren nach Monaten nummeriert. In manchen Monaten gab es nur eine Kladde, in anderen zwei, als a) und b) bezeichnet. Eins bis vier für Januar bis April waren vorhanden. Die Nummern fünf und sechs fehlten, während Nummer sieben a) neben Nummer vier eingeordnet war. Sieben b), derzeit in Arbeit, lag vorne in der Wache.
Sinkwitz hatte also die Journale von Mai und Juni anderswo deponiert. Versteckt mochte Asmus noch nicht sagen. Nicht alle Anzeigen aus dem Mai waren im Juli schon erledigt. Auffällig war ihr Fehlen allerdings schon.
Asmus setzte sich an Sinkwitz’ Schreibtisch, die Hände flach auf der aufgeräumten Platte ausgebreitet, und dachte nach. Als er, ohne zu einem schlüssigen Ergebnis gekommen zu sein, endlich den Kopf hob und zum Fenster hinaussah, machte er eine Entdeckung.
Das Fenster ging auf die Gasse, in der Schröder zu Tode gekommen war. Der Gärtner hatte inzwischen den Baum in Hüfthöhe abgesägt, vielleicht in der Hoffnung, dass er wieder ausschlagen würde.
In dieser Nacht hatte Sinkwitz doch wohl nicht Dienst gehabt? In der Regel war er von der nächtlichen Routine ausgenommen, gelegentlich aber musste er einspringen. Und er hatte eingeräumt, dass Schröder mit ihm möglicherweise verwechselt worden war. War er tatsächlich diese ganze Nacht im Haus gewesen?
Das konnte Asmus gleich klären. Das musste in Nummer sieben b) erfasst worden sein. Er sprang auf und riss dabei versehentlich einen Stapel Unterlagen von der Ecke des Schreibtischs. Hefte des Polizeidienstes, kommunistische Traktate und Flugblätter verstreuten sich auf dem Fußboden. Und die Journale fünf und sechs. Die würde er sich gleich vornehmen. Asmus sammelte hastig alles zusammen, so wie er vermutete, dass sie gelegen hatten, packte sie auf den Schreibtisch zurück und eilte in den Wachraum.
Nummer sieben b), Sturmnacht. Leicht zu finden. Und natürlich hatte Sinkwitz Dienst gehabt. Ausgetragen war er morgens um 6.30 Uhr, als er zwar das Haus verlassen, aber dann Schröder entdeckt hatte. Asmus ärgerte sich, dass er diesem Detail noch nicht nachgegangen war. Sinkwitz hatte damals die Frage, ob Schröder ihn besucht hatte, nicht beantwortet. Ganz offensichtlich hatte er. Sinkwitz hatte Schröder den Schlüssel zum Motorrad ausgehändigt, damit der nicht im Sturm zu Fuß zu Sinkwitz’ Wohnung gehen musste. Sein Chef musste mitbekommen haben, was vor seinem Fenster vorgegangen war.
Eine weitere Bemerkung fand sein Interesse. Unter 0.30 Uhr stand: Es schüttet wie aus Eimern, selten ein solches Wetter gehabt.
Das erinnerte Asmus daran, mehr über das Wetter dieser Nacht in Erfahrung zu bringen. Das gehörte zu einer sachgemäßen, sorgfältigen Untersuchung.
Es knarrte. Die Außentür! Jemand kam.
Asmus schlug die letzte leere Seite auf und begann seinen Nachtdienst einzutragen.
In den Wachraum trat Sinkwitz, wischte sich den Schweiß vom ungewohnten Marsch von der Stirn und ließ sich auf einen Hocker sinken. »Alles ruhig, Asmus?«
»Ruhig wie im Storchennest bei Nacht.«
»Wie? Ach so. Störche, ja. Schön.«
»Aber es kann ja noch wirbeliger werden«, meinte Asmus und dachte an die Journale fünf und sechs, die er nachher überprüfen würde.
»Ja, bestimmt«, versicherte Sinkwitz zerstreut. »Ich habe etwas vergessen, muss zu Hause nacharbeiten.« Ächzend erhob er sich und schwankte in sein Büro.
Das musste ja sehr wichtig sein, dachte Asmus, während er ihm nachsah. Wanderungen, auch kleine, war der Polizeichef nicht gewohnt. Seine Wohnung im Norden von Westerland war ein ganzes Stück entfernt.
Kurze Zeit später kam Sinkwitz zurück, inzwischen sichtlich besser gelaunt. An Asmus vorbeimarschierend, hob er die Hand und verließ grußlos die Wache.
Asmus atmete auf und schob sich auf den Hocker am Tresen. Interesselos blätterte er im Journal, das er vor sich liegen hatte, dabei aufmerksam alle Geräusche verfolgend, die er von draußen wahrnahm. Sinkwitz’ Schuhe knirschten auf den drei Stufen vor dem Gebäude, dann entfernten sich seine Schritte Richtung Strand und Norden. Er war auf dem Heimweg.
Asmus wartete noch einige Minuten, dann schlich er in das Büro seines Chefs. Der Heftstapel lag auf der Schreibtischecke wie vorher, nur Licht hatte er nicht mehr ausreichend. Er nahm ihn mit hinüber in den Wachraum, wo die Lampe bereits brannte.
Polizeidienst, Fahndungen nach Personen, die sicher nicht auf Sylt waren, zwei kommunistische Flugblätter. Alles da. Nur nicht die Journale fünf und sechs, in denen sich die Anzeige gegen ihn hätte befinden müssen.
Asmus fluchte laut.
Er war zu spät gekommen.
Aber eines wusste er nun genau: Sein Chef war tief in diese Angelegenheit verwickelt.
KAPITEL 11
Kurz vor Mittag schlenderte Boy Böhrnsen in die Wache, keineswegs schuldbewusst, obwohl er die Angabe erhalten hatte, sich bitte präzise um neun Uhr einzufinden.
Asmus beschloss, es zu übersehen, ließ den Mann dafür aber warten, bis er auf seinem Hocker im Wachraum so ungeduldig zappelte, dass man das Knarren der Sitzfläche und das Scharren der Stuhlfüße in der ganzen Wache hörte.
»Matthiesen, Lorns! Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich so lange warten lässt!«, brüllte Böhrnsen endlich.
»Tut mir leid, Boy«, antwortete Lorns, der ihm gegenüber saß und schrieb, beschwichtigend, »für dich ist Wachtmeister Niklas Asmus zuständig. Er ruft dich ganz sicher, sobald er für dich Zeit hat. So viel ich weiß, hat er um neun Uhr mit dir gerechnet, und so wie ich ihn kenne, hättest du Punkt neun deine Aussage machen dürfen.«